Moers. Das Leben auf der Straße ist bei Minusgraden besonders hart. Betroffene aus Moers berichten, wie sie mit der Obdachlosigkeit im Winter umgehen.
Sonnenstrahlen glitzern auf der Schneeschicht, die den zugefrorenen See am Königlichen Hof bedeckt. Zwei Jungen laufen lachend mit einer Rodelschale unter dem Arm in Richtung des Freizeitparks: Der Wintereinbruch hat einen weißen Mantel um die Moerser Innenstadt gelegt. Unweit dieses saisonalen Spektakels, im Tagesaufenthalt für wohnungslose Menschen der Caritas, haben sich diejenigen versammelt, die wohl am meisten mit den Minusgraden der vergangenen Tage zu kämpfen haben.
Michael ist einer von ihnen. Er lebt seit acht Monaten auf der Straße und zieht seitdem von Stadt zu Stadt. Vor allem im Norden Deutschlands ist er viel herumgekommen. Vor etwa zehn Jahren hatte der Mann mittleren Alters, der in Baden-Württemberg aufgewachsen ist, schon einmal längere Zeit ohne festes Dach über dem Kopf gelebt. Er fand zurück in den Alltag, doch als seine langjährige Beziehung plötzlich endete, wusste Michael nicht, wohin er gehen könnte. Seither ist er auf Wanderschaft. Immer dann, wenn ihm danach ist, reist er in die nächste Stadt. Seit November hält er sich in Moers auf, um zu überwintern, wie er selbst sagt: „Ich merke jetzt schon, dass ich unruhiger werde und es mich eigentlich wieder weiter zieht. Aber es ist arschkalt draußen. Und mein gesunder Menschenverstand sagt mir, es könnten noch mehr kalte Tage kommen.“
Obdachloser Michael hat auch in Moers schon auf der Straße übernachtet
In seiner vorübergehenden Heimat hat Michael feste Strukturen gefunden. Tagsüber wärmt er sich im Aufenthalt der Caritas auf, läuft je nach Wetterlage durch die Stadt und geht gern mal einen Kaffee trinken. Zudem kennt er mittlerweile alle Stellen, an denen Ehrenamtler warme Mahlzeiten an Wohnungslose verteilen. „Mit meinem Bürgergeld komme ich ganz gut aus. Ich nehme keine Drogen und trinke nicht übermäßig viel Alkohol.“ Seine Nächte verbringt Michael im Übergangswohnheim an der Römerstraße, wo nach Angaben der Stadt zurzeit etwa 50 Menschen untergebracht sind. Das war nicht immer so: „Die ersten drei Nächte in Moers habe ich neben einer Kirche geschlafen.“
Das Schlafen im Freien ist für Michael nicht neu. Auf vielen vorherigen Stationen hat er nicht sofort Anschluss an die dortigen Unterkünfte und Anlaufstellen gefunden und die Nacht an fremden Hauswänden verbracht: „Ich wurde schon öfters von Anwohnern verjagt. Manche rufen die Polizei, weil sie nicht wollen, dass jemand unter ihrem Dach schläft.“ Auch im Wald hat Michael schon genächtigt – nur mit einem Schlafsack ausgestattet. „Wenn man die richtige Ausrüstung hätte – also ein gutes Zelt, eine Isomatte und einen warmen Schlafsack – könnte man die Kälte bestimmt irgendwie aushalten“, meint der Obdachlose. Was er sich wünscht? „Weniger Kälte und weniger Regen.“ Eine eigene Wohnung erwähnt Michael bei der Frage nach seinen Träumen für die Zukunft bewusst nicht: „Solange mein Körper es zulässt, will ich so weiter leben. Es gefällt mir, frei und nicht ortsgebunden zu sein.“
Obdachlose aus Moers: Frustrierende Wohnungssuche und problematische Tabuthemen
Diese Einstellung teilen nicht alle Gäste des Tagesaufenthalts am Ostring 8 in der Moerser Innenstadt. Eine Frau, die dort ihr Handy aufladen und den frostigen Temperaturen entgehen möchte, erzählt von ihrer verzweifelten Suche nach einer festen Bleibe, die bereits über ein Jahr andauert. „Eine Wohnung vermietet zu bekommen, ist für mich nahezu unmöglich“, sagt die Dame, die ihren Namen nicht in der Zeitung nennen möchte. Sie fühle sich aufgrund ihrer Obdachlosigkeit von Vermietern diskriminiert. Auch die Bedingungen, die das Jobcenter stellt, würden die Bedingungen erschweren. Die Obergrenze für die Bruttowarmmiete von 444 Euro sei bei dem derzeitigen Wohnungsmarkt und Mangel an Sozialwohnungen in Moers kaum einzuhalten.
In dem warmen Treffpunkt der Caritas bekommt sie die Möglichkeit, sich zu duschen, ihre Kleidung zu waschen und zu trocknen oder einfach mal ungestört das Badezimmer aufzusuchen: „Die Suche nach einer öffentlichen Toilette ist ein Tabuthema, was für Obdachlose ein großes Problem ist.“ Außerdem bekommt sie dort Leinwände und Farben, um ihrer jahrzehntelangen Leidenschaft nachzugehen. Einige ihrer Gemälde zieren bereits die Wände des Tagesaufenthalts. „Für mich ist die Kunst eine Art Therapie. Und besser als sich nur der Kälte auszuliefern ist es sowieso.“
Und ihrer widrigen Situation kann sie sogar etwas Positives abgewinnen: „Wenn man erst einmal abgestiegen ist, lernt man ganz andere Leute kennen.“ Sie zeigt exemplarisch in Richtung einer anderen Frau, die früher in Kamp-Lintfort gelebt hatte und nach dem Tod ihres Mannes mit der Witwenrente ihre Wohnung nicht weiter halten konnte. „Die Menschen hier sind ehrlicher und meistens freundlicher als in der bürgerlichen Blase.“
Obdachlosigkeit in Moers: Informationen zu Anlaufstellen und Spenden
Für Obdachlose finden in Moers bei der Caritas eine zentrale Anlaufstelle. Der Verband übernimmt im Auftrag der Stadt den direkten Kontakt und die Betreuung der Menschen. Der Tagesaufenthalt der Caritas ist montags bis freitags von 9 bis 13 Uhr geöffnet. Durchschnittlich zehn Menschen nehmen das Angebot nach Angaben von Claudia Henschel vom Team der Beratungsstelle für Wohnungs- und Existenzsicherung pro Tag in Anspruch: „Menschen aus allen Bildungsschichten können von Obdachlosigkeit getroffen werden.“ Der Aufenthaltsort wird, Stand jetzt, noch bis 2024 mit Projektgeldern gefördert. Fachdienstleiter Florian Nick hofft, den warmen Rückzugsort auch über das Jahresende hinaus weiterführen zu können. Für die Betroffenen soll dort demnächst ein Computer sowie ein Drucker angeschafft werden.
Es ist bei der Caritas möglich, wohnungslose Menschen mit einer Spende zu unterstützen. Nick bittet jedoch darum, von Sachspenden abzusehen: „Mit einer finanziellen Spende können wir die Wünsche der Klienten passgenau und individuell erfüllen.“ Diese Wünsche beginnen bei Geld für das Anfordern einer Geburtsurkunde oder Kontoauszügen, die für den Bezug von Transferleistungen erforderlich sind, und reichen bis zu einer passenden Hose oder einem warmen Schlafsack.
Die Sozialberatungsstelle der Caritas am Ostring 1 in der Moerser Innenstadt bietet montags, dienstags, donnerstags und freitags Sprechzeiten für Menschen in Notlagen an. Darüber hinaus ist ein Streetworker des Wohlfahrtsverbands mit einem Bus im linksrheinischen Kreis Wesel unterwegs und geht aktiv auf Betroffene zu. Auf dieselbe Weise gehen Mitarbeitende der Suchtberatung vor. Zudem gibt es bei der Caritas Ansprechpartner zur Vorbeugung von Wohnungslosigkeit (etwa bei drohenden Räumungsklagen) und zur Alltagsbegleitung nach der Vermittlung von Menschen in eine Wohnung.