Moers. Im NRZ-Interview spricht der SPD-Abgeordnete Jan Dieren über sein erstes Jahr im Bundestag, den Krieg, soziale Fragen und seinen Wahlkreis.
Seit gut einem Jahr gehört Jan Dieren jetzt dem Deutschen Bundestag an. Im Wahlkreis Moers, Neukirchen-Vluyn, Krefeld Mitte/Nord holte er das Direktmandat für die SPD. Im NRZ-Interview mit Matthias Alfringhaus berichtet er über seine Erfahrungen, die Politik von Olaf Scholz und den Wahlkreis.
Ganz schön turbulent, ihr erstes Jahr im Bundestag: Was bleibt haften, wenn Sie zurückblicken?
Jan Dieren: Wir haben mit dem Bürger:innengeld einen überfälligen Kurswechsel in der Sozialpolitik eingeleitet und einige Verbesserungen für Beschäftigte verabschiedet. Gleichzeitig waren wir das ganze Jahr über im Krisenmodus. Dabei ist deutlich geworden: Wir brauchen eine bezahlbare Daseinsvorsorge, damit niemand im Kalten und Dunkeln sitzen muss. Außerdem ist eine weltweite Friedensordnung nötig, die allen Menschen ein Leben in Freiheit und Sicherheit ermöglicht. Diese Fragen haben mich in den vergangenen Monaten besonders bewegt.
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Wie kommen Sie mit dem Kurs von Olaf Scholz zum Krieg in der Ukraine und zur Bundeswehr klar?
Olaf Scholz wurde in den vergangenen Monaten immer wieder mit dem Vorwurf angegriffen, zu zögerlich vorzugehen. Ich finde, dieser Vorwurf geht völlig in die falsche Richtung. Olaf Scholz wägt in dieser gefährlichen Situation jeden Schritt sorgfältig ab und poltert nicht, auf den größtmöglichen Effekt schielend, herum, wie manch ein Oppositionsführer. Man kann in dieser schwierigen Lage zu anderen Schlüssen kommen. Aber angesichts der unabsehbaren Gefahr einer weiteren Eskalation dieses Krieges bin ich wirklich froh, dass er mit so viel Besonnenheit vorgeht.
Was ist aus dem Appell „Die Waffen müssen schweigen“ geworden, den Sie unterzeichnet haben?
Mit diesem Appell haben wir uns zu einer Zeit für Verhandlungen ausgesprochen, zu der solche Stimmen noch sehr vereinzelt gewesen sind. Das hat sich seitdem geändert. Es gibt mittlerweile zahlreiche Stimmen für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen, in Deutschland und anderswo. Erfolgreiche diplomatische Bemühungen in den vergangenen Monaten, wie zum Beispiel das sogenannte Getreideabkommen, haben gezeigt, dass Verhandlungen sinnvoll sind. Jetzt ist es wichtig, an solche Erfolge anzuknüpfen, um weiteres Sterben zu verhindern.
Zur Mitbestimmung haben Sie im Plenum gesprochen: Wie wichtig ist Ihnen das Thema?
Leider hat die Mitbestimmung der Kolleg:innen in den Betrieben und Unternehmen nicht die gesellschaftliche Bedeutung, die ihr angemessen wäre. Unternehmen mit Betriebsräten sind produktiver und haben zufriedenere Beschäftigte. Überall, wo es starke Mitbestimmung gibt, ist auch das Vertrauen der Menschen in demokratische Strukturen stark. Trotzdem ist die Mitbestimmung überall im Rückgang. Seit der letzten großen Reform des Betriebsverfassungsgesetzes vor 50 Jahren hat sich allerdings die Arbeitswelt stark gewandelt. Wir brauchen deshalb ein Update und nicht weniger, sondern mehr Mitbestimmung. Ich möchte dazu beitragen, das demokratische Recht auf Mitbestimmung zu stärken und weiterzuentwickeln.
Was passiert zurzeit beim Thema, die betriebliche Mitwirkung von Mitarbeitenden auszubauen?
Im Koalitionsvertrag haben sich SPD, Grüne und FDP darauf verständigt, die Mitbestimmung noch in dieser Legislaturperiode weiterzuentwickeln. Arbeitsminister Hubertus Heil hat bereits drei Gesichtspunkte herausgestrichen, die das umfassen soll: Den Rückgang der Mitbestimmung bekämpfen, ihr ein Update gerade im Hinblick auf die Digitalisierung und den Wandel der Arbeitswelt zu verpassen und sie schließlich auch inhaltlich weiterzuentwickeln. Im Parlament werden wir jetzt darüber diskutieren, wie wir das genau ausgestalten. Für die SPD-Fraktion führe ich deswegen gerade Gespräche mit Gewerkschaften, Betriebsräten, Wissenschaftler:innen, Unternehmen und Verbänden darüber, wie eine Mitbestimmung von morgen aussehen kann.
Wie ist Ihr Verhältnis zum Wahlkreis?
Seit ich mein neues Wahlkreisbüro am Ostring in Moers eröffnet habe, kommen dort jeden Tag Menschen mit ihren Fragen, Problemen und Anregungen vorbei. Ich habe das Gefühl, dass sie mich als Ansprechpartner und Kümmerer wahrnehmen. Das freut mich sehr. Im letzten Jahr habe ich aber auch viele Unternehmen, Vereine und Verbände in Moers, Krefeld und Neukirchen-Vluyn besucht, um mich als neuer Wahlkreisabgeordneter vorzustellen. Eine Sorge, die sie alle und viele andere Menschen umtreibt, sind die steigenden Energiepreise. Da ich mich in Berlin viel mit den Gas- und Strompreisbremsen beschäftigt habe, konnte ich die Anregungen aus dem Wahlkreis dort direkt einbringen. Auch sonst habe ich in meinem ersten Jahr in Berlin einiges für den Wahlkreis erreichen können – zum Beispiel die Sicherung der Bundesfinanzierung für das Moers Festival.
Was nehmen Sie wahr: Welche Themen sind den Menschen im Moment besonders wichtig?
Unter allen Zuschriften, Anrufen und Nachrichten, die ich erhalte, stehen zwei Themen ganz vorne: Der Krieg in der Ukraine und die steigenden Preise. Viele sind solidarisch mit den Menschen in der Ukraine und sorgen sich vor den Gefahren einer weiteren Eskalation des Krieges. Angesichts steigender Preise wissen viele Menschen in Deutschland nicht mehr, wie sie ihre Lebenskosten decken sollen. Beides, die Frage nach Krieg und Frieden sowie nach einer sozialen Antwort auf die Inflation, waren auch Schwerpunkte meiner politischen Arbeit im letzten Jahr. Ein aktuelles Thema ist außerdem die Bedrohung durch Reichsbürger:innen und andere rechte Terroristen. Der geplante Putsch der Reichsbürger:innen zeigt: Die größte Gefahr für die Demokratie kommt von rechts.
Was halten Sie für so wichtig, dass Sie es 2023 umgesetzt sehen möchten?
Die Preisbremsen für Gas, Strom und andere Energieformen mussten schnell kommen. Bei so einem komplexen System wie dem Energiemarkt geht das nur auf Kosten der Genauigkeit. Deswegen werden wir die Bremsen in den nächsten Monaten auswerten und dann bis zur nächsten Heizperiode verbessern. Vor allem werden wir sie sozialer ausgestalten müssen. Diejenigen sollen wirklich entlastet werden, die es brauchen – und nicht diejenigen noch mehr bekommen, die nicht auf staatliche Mittel angewiesen sind. Daneben ist mir wichtig, dass wir die Themen Kindergrundsicherung und Ausbildungsplatzgarantie für junge Menschen angehen und ausgestalten. Gerade am Übergang von Schule und Beruf brauchen jungen Erwachsene Sicherheit und eine Perspektive. Auf europäischer Ebene arbeiten wir außerdem gerade an einer Richtlinie für Plattformarbeit. Es wäre wichtig, hier weiter voranzukommen, denn immer mehr Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt mit Arbeit für Plattformunternehmen. Sie brauchen Klarheit und gesetzliche Regeln, die sie schützen.