Neukirchen-Vluyn. Bürgermeister Harald Lenßen spricht im NRZ-Interview über die vier Bürgerversammlungen. Und über das allgemeine gesellschaftspolitische Klima.
Das politische Jahr hat in Neukirchen-Vluyn mit den Bürgerversammlungen begonnen, zu denen die Verwaltung im Laufe der vergangenen Wochen eingeladen hatte. Und in der Region sind hunderte Menschen gegen Rechts auf die Straße gegangen. NRZ-Redakteurin Sonja Volkmann hat mit Bürgermeister Harald Lenßen über beide Sachverhalte gesprochen.
Herr Lenßen, die vier Bürgerversammlungen sind jetzt vorüber. Was ist die wesentliche Erkenntnis?
Die wesentliche Erkenntnis ist, dass wir vier Veranstaltungen durchgeführt haben, von denen nur zwei so besucht wurden, wie ich es mir erhofft und erwünscht habe. Und zwar in Rayen und in Vluyn. Enttäuscht bin ich über die geringe Resonanz in Neukirchen und in Niep.
Angesichts dessen: Muss womöglich das Konzept noch mal überdacht werden. Also macht es Sinn, noch vier Veranstaltungen anzubieten?
Wir denken jedes Jahr vor den Veranstaltungen darüber nach, welche Themen man vorstellt. Ich glaube, dass es wichtig ist, mit den Bürgern in Kontakt zu treten und auf den unterschiedlichen Kanälen zu kommunizieren. Die Bürgerversammlungen haben eine lange Tradition in Neukirchen-Vluyn. Deswegen ist es auch sinnvoll, diesen Weg weiterzugehen. Aber wenn zwei Versammlungen unterdurchschnittlich besucht wurden, muss man sich die Frage stellen, ob man die vier Veranstaltungen weiter durchführt oder ob man an dem Format etwas ändert. Vielleicht Einzelthemen in den Fokus stellt, wie wir das zum Beispiel in der Veranstaltung mit der Volkshochschule „Stadtgespräche“ gemacht haben. Aber die Bürgerversammlungen grundsätzlich sind wichtig, um mit den Bürgern in Kontakt zu treten und Transparenz und Offenheit zu zeigen.
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Sind Sie überrascht worden von Themen, die angesprochen worden sind?
Jede Veranstaltung birgt eine Art Überraschungspaket. Aber Überraschungsmomente sind in diesem Jahr ausgeblieben. Überraschend war eher, dass bestimmte Themen nicht angesprochen worden sind.
Sie haben am Montag den Vluyner Nordring ausführlicher behandelt. Für wie realistisch halten Sie es, dass das Hochhaus in diesem neuen Aufschlag unter den Hammer kommt?
Nachdem im letzten Jahr der Termin durch Bezahlung der Forderung aufgehoben wurde, muss man natürlich bei den nächsten Terminen auch wieder mit dem Schlimmsten rechnen. Wir haben jetzt den Zwangsversteigerungsantrag gestellt und warten ab, ob der angenommen wird. Eine Prüfung läuft beim Amtsgericht. Wenn er angenommen wird, sollte es schneller zum Termin kommen. Dann werden die Karten neu gemischt.
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Welche Themen hätten Sie noch erwartet?
Ich hätte eine tiefergehende Diskussion über das Wohnquartier am Vluyner Nordring erwartet. Auch Kritik zu der Sanierung. Die Sanierung im Umfeld des Vluyner Nordrings 59 ist wichtig. Neukirchen-Vluyn braucht diese Wohnungen. Jede Wohnung, die fertiggestellt ist, wird unmittelbar vermietet. Dann hatte ich mehr Fragen zum klimafreundlichen Mobilitätskonzept erwartet.
Das Thema Klimaschutz wird ja kontrovers diskutiert. Wie wollen Sie es schaffen, dass es in Neukirchen-Vluyn ein allgemeines Verständnis dafür gibt?
Das kann man nur hinbekommen, wenn man mit den Menschen spricht. Aber dann müssen sie auch kommen. Bei den Treffen im vergangenen Oktober zum Themenkomplex klimafreundliches Mobilitätskonzept war die Resonanz gering. Vielleicht lag das auch am Termin. Was man aber feststellen konnte: Dass 50 Prozent unbedingt für Fahrradfreundlichkeit und Fahrradwege sind und die anderen 50 Prozent für den motorisierten Individualverkehr und für viele Parkplätze. Wir müssen versuchen, die Menschen mitzunehmen. Jede der 84 Maßnahmen muss vonseiten der Politik und der Verwaltung bewertet werden. Dann muss auch erklärt werden, warum wir das machen.
Heißt aber, wenn Sie von 50:50 sprechen, dass Sie mutmaßlich die Hälfte der Leute mit einer Entscheidung verprellen.
Wir werden nie alle Bürger zufriedenstellen. Das kann man nicht erwarten. Aber wenn die große Mehrheit bestimmte Maßnahmen mitträgt, dann ist das demokratisch abgestimmt und nachvollziehbar, und dann müssen sich diejenigen, die dagegen sind, mit der neuen Situation arrangieren.
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Ich würde gern über das gesellschaftspolitische Klima sprechen, das etwas rauer wird. In Kamp-Lintfort beantragt der Bürgermeister einen Waffenschein. In anderen Kommunen treten die Bürgermeister zurück. Was macht das mit Ihnen?
Das macht mich zunächst einmal nachdenklich. Weil ich das, was in den sozialen Netzwerken passiert, mitbekomme und auch für mich mitnehme. Die Menschen müssten reflektieren, was sie damit bewirken, bevor sie etwas schreiben und Behauptungen und Stellungnahmen in die Netzwerke einstellen. Sie bewirken damit Neid, Missgunst, teilweise Hass. Man schreckt nicht zurück, Menschen öffentlich zu beleidigen oder anzugreifen. Man sollte von erwachsenen Menschen erwarten, dass sie das in ihre Überlegungen einbeziehen, bevor sie etwas posten. Ich bin Gott sei Dank noch nicht bedroht worden, so wie es offensichtlich bei Professor Landscheidt der Fall war, und wie in anderen Bereichen Menschen tätlich angegriffen und sogar getötet wurden. Das ist bei mir noch nicht passiert. Aber ich bin öffentlich beleidigt worden. Das bringt vielleicht der Beruf eines Bürgermeisters mit sich, damit muss man rechnen und versuchen, einen Umgang damit zu finden. Ich habe meinen Umgang mit diesen Beleidigungen gefunden – die nicht so häufig stattfinden. Damit kann nicht jeder umgehen. Und das führt dazu, dass man sich die Frage stellt: Trete ich wieder an? Oder trete ich zurück? Oder setze ich mich überhaupt dieser Situation aus, indem ich für ein solches Amt kandidiere? Ich gehe damit sachlich um, lasse es aber nicht zu nahe an mich heran, und möchte gerne den Weg weitergehen als Bürgermeister der Stadt.
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Können Sie das Vorgehen von Herrn Landscheidt nachvollziehen?
Ich kann das absolut nachvollziehen. Wenn ich bedroht würde und ich meine Familie schützen möchte, dann muss ich mindestens mal auf das Thema hinweisen. Und er hat das sehr deutlich getan, dafür bin ich sehr dankbar. Ob der Weg mit dem Antrag eines großen Waffenscheins der richtige ist – darüber ist sicherlich nachzudenken. Das wird Herr Landscheidt auch getan haben. Aber er wollte einfach einen Hilferuf absetzen, glaube ich, und ein Zeichen setzen. Und dass es richtig gewesen ist, hat die Diskussion, die für bundesweites Aufsehen gesorgt hat, gezeigt. Ich habe mich solidarisch in die Gruppierung derer gestellt, die gegen Rechts demonstrieren und gegen Gewalt gegen Amtsträger.
Sie treten wieder an. Was treibt Sie an?
Die Entwicklung der Stadt, die über zehn Jahre sehr positiv war, möchte ich gerne fortsetzen, und wir haben noch so viele Themen, die im Moment in der Findungsphase sind und die teilweise entschieden sind, teilweise vor der Entscheidung stehen, die möchte ich weiter die nächsten Jahre begleiten.
Was sind für dieses Jahr die wesentlichen Themen?
Zunächst das, was ich in den Bürgerversammlungen dargestellt habe: Dass wir die Sportanlage umsetzen, die Zweifachturnhalle bauen, dass wir das Neukircher Feld entwickeln. Und dass wir den Weg zur Entwicklung der Süd-Ost-Fläche auf Niederberg mit dem Investor und mit der RAG MI sicher auf den Weg bringen. Da gibt es so viele Themen, die man für die Stadtentwicklung auf die Agenda genommen hat, die alle auf einem guten Weg sind.
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Mit Blick auf die Süd-Ost-Fläche sollen Investor und RAG MI in guten Gesprächen sein. Der Letter of Intent wird jetzt unterschrieben. Was bedeutet das konkret?
Der Investor ist bereit, den Letter of Intent und einen Kaufvertrag zu unterschreiben, allerdings müssen da beide Vertragspartner übereinkommen (Anm. d. Red.: RAG MI und Investor). Das sieht gut aus. Der größere Schritt wird dann der Rahmenvertrag sein, der für die Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses im April vorbereitet sein soll.
Wesentlicher Streitpunkt war die Größe der Nahversorgung. Wie ist da der aktuelle Stand?
Die Bewertung des Gutachters sagt, die 1200 qm Verkaufsfläche sind nicht zentrenschädlich und es geht nicht darum, mehr Produkte anzubieten, sondern eine Wohlfühlatmosphäre beim Einkaufen zu gestalten. Das sollte mehrheitsfähig sein. Der Investor ist mit dem Ergebnis von aus seiner Sicht nur 1200 qm zufrieden.
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Weiteres Thema: die Niederrheinbahn. Die Ergebnisse des Gutachtens liegen auf dem Tisch. Es wird nicht preiswert. Wie realistisch scheint eine Realisierung?
Wir werden den eingeschlagenen Weg mit der Machbarkeitsstudie weiter gehen. Der Ausschuss wird sich mit dem Thema beschäftigen. Im Anschluss werden wir uns mit der Stadt Moers und dem Kreis zusammensetzen, die müssen mitziehen, und uns mit der Niag als Eigentümerin auseinandersetzen. Der VRR muss einen entsprechenden Vorschlag an das Ministerium formulieren. Dann wird das Ministerium entscheiden, ob die Maßnahme förderwürdig ist. Wenn klar ist, dass die Dinge greifen, kommt die Niederrheinbahn. Gleichwohl gibt es die Bestätigung dessen, was wir geahnt haben: dass es sehr teuer ist. Weil die Gleisinfrastruktur ertüchtigt werden muss. Bahnübergänge müssen den neuesten Standard bieten. Die teuerste Lösung liegt bei rund 40 Mio Euro. Es kann Alternativen geben.
Eine Alternative wäre eine Optimierung des Busnetzes?
Ja.