Kreis Wesel/Insel Poel. Der junge Seeadler von der Bislicher Insel hat eine Ersatzfamilie gefunden. Wie die Altvögel auf das fremde Jungtier reagierten.

  • Ein verwaister junger Seeadler von der Bislicher Insel hat in Mecklenburg-Vorpommern eine neue Chance bekommen. Er wurde in einen fremden Horst gesetzt.
  • Das Bangen war groß, ob das andere Jungtier ihn akzeptieren würde. Sein Überleben entschieden letztlich die „Adoptiveltern“, die das fremde Tier vom Niederrhein versorgen müssen.
  • Bislang ist ein solches Experiment nicht dokumentiert, die Naturschützer der Nabu Greifvogelstation leisteten Pionierarbeit.

Zum ersten Mal, seit er ganz klein war, hat der junge Seeadler von der Bislicher Insel jetzt einen lebendigen Artgenossen gesehen. Ein Weibchen, etwas jünger als er selbst. Und er hat freie Landschaft bestaunt, aus 20 Metern Höhe, Bäume und Blätter gesehen, den Wind in den Federn gespürt. „Es war toll“, schwärmt Peter Malzbender vom Team der Greifvogelstation in der Weseler Schillkaserne. „Er hat die Flügel ausgebreitet, damit geschlagen, es sichtlich genossen.“ Seine Freiheit könnte der Jungadler von der Bislicher Insel hier finden, auf der Insel Poel in Mecklenburg-Vorpommern, hoch in der Krone einer Pappel, mit seiner neuen Halbschwester. Die gute Nachricht vorweg: Obwohl Fachleute ihre Zweifel hegten, verstehen sich die beiden Jungtiere prima, finden einander faszinierend. Es war ein weiter Weg dorthin und ganz am Ziel sind die Greifvogelschützer noch nicht: Jetzt kam es auf die Alttiere an, würden sie den Fremden vom Niederrhein akzeptieren, füttern und ihm zeigen, wie er ein richtiger Seeadler werden kann?

Woher kommt das zweite Junge im Horst?

Irritiert haben sie schon ausgesehen, die Adlereltern, berichten Beobachter. Plötzlich saß ein fremdes Jungtier in ihrem Nest. Offensichtlich haben die Alttiere sich damit abgefunden, dass es nun einen weiteren hungrigen Schnabel zu stopfen gilt, auch wenn sie sich vermutlich nicht erklären können, wie das passieren konnte. Die Tiere werden sorgfältig beobachtet und das neue Familienleben scheint sich einzuspielen. Die Alten schaffen Futter herbei, die beiden Jungen teilen es sich ohne Zank, berichtet Malzbender. Der Kreis-Weseler Nabu-Vorsitzende ist stolz, „eine solche Aktion ist noch nie irgendwo dokumentiert worden“, sagt er. Glück für den jungen Adler, der bislang ein trauriger Pechvogel war.

Inzwischen wiegt das Tier 3,9 Kilo und hat eine enorme Spannweite. Irgendwann in den nächsten zwei bis drei Wochen wird es lernen, seine Flügel auch zu gebrauchen. Dann geht es darum herauszufinden, wie man jagt: Das können ihm nur Artgenossen richtig beibringen. Ein Naturdrama findet so sein glückliches Ende.

Da war er drei Tage alt und hatte ungewisse Chancen: Peter Malzbender mit dem kleinen Adler nach seiner Rettung.
Da war er drei Tage alt und hatte ungewisse Chancen: Peter Malzbender mit dem kleinen Adler nach seiner Rettung. © Nabu | Peter Malzbender

Die Geschichte des Adlerjungen ist schnell erzählt: Sein Vater wurde kurz vor Ostern tot in einem Feld bei Alpen gefunden. Nachdem zunächst der Mensch als Ursache vermutet wurde, stellte sich heraus, dass er wohl bei einem Kampf unter Greifvögeln unterlegen ist. Niederländische Forscher hatten das Tier mit einem Sender bestückt und zu dem Zeitpunkt festgestellt, dass das Gerät keine Bewegung mehr verzeichnete.

Allerdings hatten der männliche Seeadler und seine Partnerin auf der Bislicher Insel zu diesem Zeitpunkt bereits gebrütet. In einer Rettungsaktion bargen Helfer ein Küken und ein Ei, das Weibchen hätte seine Jungen nicht allein großziehen können. Die Adlerin konnte nicht gleichzeitig Futter beschaffen und das Kleine wärmen. War für das Ei jede Hoffnung verloren, kämpften die Retter um das Überleben des winzigen lebenden Adlers, 81 Gramm leicht, drei Tage alt. Stefanie Wellmann vom Team der Greifvogelstation nannte ihn „Zwergo“ und päppelte das Vögelchen auf – mit Inkubator, speziellem Futter, und immer vermummt. „Es war klar, dass er kein Volierenvogel werden sollte“, erläutert Malzbender. Deshalb durfte er sich nicht zu sehr an Menschen gewöhnen. Um ihm überhaupt eine Idee zu geben, welcher Spezies er angehört, bekam er eine Adler-Atrappe zur Gesellschaft, ein trauriger Ersatz.

Aus dem winzigen „Zwergo“ wurde ein „richtiger Brummer“

Von einem „kleinen Adler“ kann inzwischen nicht mehr die Rede sein, dem Namen „Zwergo“ ist der Jungvogel rasant entwachsen. „Innerhalb der letzten vier Wochen hat er sein Gewicht verdreißigfacht“, sagt Malzbender, seine Fänge seien schon jetzt größer als Malzbenders eigene Hände, und die seien schon nicht klein. „Das ist ein richtiger Brummer.“

Die Jungen teilen das Futter ohne Zank
Peter Malzbender - Nabu-Greifvogelstation Wesel

Genau hier lag das Problem: Der junge Adler ist am 23. März geschlüpft, früher als viele seiner Artgenossen in Deutschland. Um ihm ein Leben in Freiheit zu ermöglichen, fuhr Malzbender ihn zum Wildpark Eekholt in Schleswig-Holstein, um unter den zahlreichen brütenden Seeadlerpaaren dort Adoptiveltern für den Jungvogel zu finden. Die Suche gestaltete sich schwierig: „Wir brauchten einen Horst mit nur einem Jungtier, etwa in seinem Alter. Sonst hätte es Stress zwischen den Jungen gegeben, sie hätten sich bekämpft.“

Wie groß der ehemals hilflose flauschige Winzling geworden ist, zeigt dieses Bild: Der Baumkletterer versucht, den Halbstarken unter Kontrolle zu bekommen, um ihn in die 20 Meter hohe Pappel und den Horst zu bringen.
Wie groß der ehemals hilflose flauschige Winzling geworden ist, zeigt dieses Bild: Der Baumkletterer versucht, den Halbstarken unter Kontrolle zu bekommen, um ihn in die 20 Meter hohe Pappel und den Horst zu bringen. © Nabu | Peter Malzbender

Per Drohne habe man aufwändig nach dem richtigen Platz gesucht, aber entweder gab es zwei Junge oder das eine war noch zu klein. Malzbender holte den – dort fachlich und fürsorglich vom Pflegeleiter des Wildparks André Rosen versorgten – Waisenjungen wieder ab und brachte ihn auf die Insel Poel. Mithilfe des Beringers René Feige vom Seeadlerschutz Mecklenburg-Vorpommern fand sich schließlich unter den rund 450 Horsten der Region einer, der passen könnte: Zwar war auch hier das weibliche Junge eigentlich nicht alt genug, aber die Weibchen sind ohnehin größer als die männlichen Seeadler. Könnte passen. Frisch beringt und per Baumkletterer fand der Jungvogel in einer halsbrecherisch aussehenden Aktion seinen Platz im neuen Horst.

Dank für die „großartige Zusammenarbeit“

Nun ist es nicht so, dass jemand einen geschützten Greifvogel einfach quer durch Deutschland transportieren dürfte, egal mit welchen Absichten. Doch das Schicksal des Kleinen hat viele in Bewegung gebracht: Bei der Unteren Naturschutzbehörde des Kreises Wesel etwa, und bei Michael Jöbges vom LANUV, ging alles sehr schnell, etliche Genehmigungen wurden erteilt und machten das unmöglich Erscheinende möglich. Malzbender, der selten an Kritik spart und sich damit gern auch mal unbeliebt macht, lobt das Engagement und zeigt sich dankbar dafür, „die Zusammenarbeit war großartig“. Auch der Nabu hat seinen Teil geleistet, denn diese Rettungsaktion war kostspielig. Zwar kommt das Land für Futter auf, mit allem Drumherum steckten die Naturschützer noch gut 1000 Euro in die Zukunft des Jungvogels – und viele Stunden Zeit.

Ist es ökologisch überhaupt sinnvoll, eine solche Aktion zu starten? „In Mecklenburg-Vorpommern hätte man das sicher nicht gemacht und der Natur ihren Lauf gelassen“, sagt Malzbender. Dort gibt es eine große Seeadlerpopulation. Am Niederrhein aber lebte nur dieses eine brütende Paar, dazu einige Jungtiere, die noch keinen Nachwuchs haben, viele Menschen verfolgen das Schicksal dieser in der Region so seltenen Art. In seinem neuen Horst wächst der junge Seeadler von der Bislicher Insel nun in einer traumhaften Landschaft heran, im Salzhaff mit seinen riesigen Gewässern. Es war ein Experiment. Dass es gelungen ist, sei auch ein großer Schritt für die Wissenschaft, so Malzbender. Es ist die Erkenntnis gewonnen, dass sich etwa verletzte Jungvögel wieder zurücksetzen lassen. Zahlreiche Experten hatten die Aktion zuvor belächelt und ihr keine Aussicht auf Erfolg bescheinigt, sagt er. Das gute Ende widerlegt sie jetzt.