Kreis Wesel. Der soziale Druck steigt. Das nimmt der VdK-Kreisverband Niederrhein wahr. Er freut sich über Mitgliederzuwachs. Aber der Ton verändert sich.
Der wirtschaftliche Druck wächst, die soziale Unsicherheit in der Gesellschaft ist groß. Das merkt der VdK Kreisverband Niederrhein besonders in zwei Bereichen: in der stetig steigenden Mitgliederzahl und in der Stimmung seiner Mitglieder. Das machte der Sozialverband für die Kreise Wesel und Kleve sowie die Stadt Duisburg auf seiner Jahrespressekonferenz deutlich, auf der er klare Forderungen an die Politik richtete.
Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Mitglieder um zwei Prozent auf rund 32.000 gestiegen, ein Trend, der sich fortsetzen dürfte. Allein in den dreieinhalb Monaten des neuen Jahres seien 600 Neumitglieder hinzugekommen, sagte VdK-Kreisverbandsvorsitzender Horst Vöge. Auch die Zahl der E-Mail-Anfragen ist in den vergangenen Jahren immer weiter angestiegen. Waren es vor Corona noch rund 31.000 Hilferufe per Mail, habe man im vergangenen Jahr rund 55.0000 E-Mail-Anfragen bearbeitet.
Ein Hauptgrund sind laut Vöge zu komplizierte Gesetze und zu umständliche Interpretationen der kommunalen Behörden, die diese Gesetze umzusetzen hätten. Was Rechtsanwältin und Kreisverbandsgeschäftsführerin Svenja Weuster bestätigt. „Es ist einfach schwierig zu verstehen“, so Weuster, die mit drei Kolleginnen und Kollegen im vergangenen Jahr eine Menge zu tun hatte, um den Mitgliedern zu ihrem Recht zu verhelfen. Durchschnittlich habe man 2023 zwischen 2000 und 2500 Verfahren geführt, „knapp die Hälfte davon haben wir gewonnen“, so Weuster weiter.
Die erstrittene Summe der Gesamtnachzahlungen lag bei rund 4,6 Millionen Euro, und gerade im Themenbereich Pflege lasse sich bereits viel im Widerspruchsverfahren gewinnen, sagt Svenja Weuster. Meistens landeten solche Fälle nicht vor Gericht, das beschleunige das gesamte Verfahren und die Mitglieder kämen schneller an ihr Geld. „Auf einen Versuch kommt es an“, ermuntert Weuster, schlechter könne man sich schließlich nicht stellen. Schlechtestenfalls werde eine Leistung nicht gewährt, aber gestrichen werde nichts. Lobend erwähnt Weuster den Dialog mit den Behörden in den Kreisen Wesel und Kleve sowie in Duisburg. Der Kontakt sei sehr gut.
Sozialverband VdK: „Das menschliche Miteinander ist schwieriger geworden.“
So bereitwillig der VdK hilft, so herausfordernd ist mittlerweile aber der zwischenmenschliche Umgang geworden. Generell registriert Weuster ein geändertes Anspruchsdenken und Verhalten der Mitglieder. Diese seien fordernder geworden, sie verlangten viel und hätten immer weniger Geduld. „Das menschliche Miteinander ist schwieriger geworden“, sagt die Geschäftsführerin deutlich.
Gleichzeitig schwindet die grundsätzliche Verbundenheit mit dem VdK. Immer mehr Mitglieder identifizieren sich nur solange mit den Grundwerten des Sozialverbands, bis ihr eigenes Verfahren abgeschlossen ist, dann treten sie wieder aus. „Die durchschnittliche Verweildauer im VdK liegt mittlerweile bei fünf Jahren“, sagt Svenja Weuster. Auch die Bereitschaft zur ehrenamtlichen Mitarbeit ist nicht besonders groß: Von 32.000 Mitgliedern im Kreisverband sind rund 800 ehrenamtlich engagiert.
Der VdK Kreisverband Niederrhein
Der Großteil der rund 32.600 VDK-Mitglieder im Kreisverband Niederrhein, rund 44 Prozent, kommen aus dem Kreis Wesel. 27 Prozent leben im Kreis Kleve und 29 Prozent in Duisburg. Rund 51 Prozent der Mitglieder sind weiblich, das Durchschnittsalter aller Mitglieder liegt bei 63,26 Jahren.
Laut Kreisverbandsvorsitzendem Horst Vöge ändern sich je nach Länge der Mitgliedschaft auch die Bedürfnisse. Von den genannten rund 55.000 E-Mail-Anfragen sei es bei rund einem Drittel nicht um Rechtsfragen, sondern um Lebensberatung gegangen. Dazu hätten auch Fragen gehört, für die man eigentlich nicht zuständig sei, etwa bei Fragen zu Reha-Maßnahmen oder der Pflegeversicherung. Der VdK weiß, dass diese Anfragen weiter kommen werden, dem Anstieg sieht er sich alleine aber nicht mehr gewachsen. Horst Vöge schwebt deshalb ein Netzwerkverbund mit anderen Sozialverbänden vor.
„Wir müssen zusehen, dass wir die Menschen auch durch unser soziales Miteinander und nicht nur durch die Rechtsberatung gewinnen“, formuliert die Geschäftsführerin als Aufgabe für den eigenen Kreisverband, der mit Sorge vor allem auf die Bereiche Pflege und Kinderarmut blickt.
Rund 25 Prozent der Kinder unter 18 Jahren in NRW wachsen in Armut auf. Im Kreis Wesel sind es laut Bertelsmann-Stiftung 15,5 Prozent, im Kreis Kleve 11 und in Duisburg gar rund 31 Prozent.
Die Auswirkungen seien verheerend, so die stellvertretende Kreisverbandsvorsitzende, Gisela Schiffers. Schlechte Ernährung, keine vernünftige Kleidung, häufiger Ausschluss von sozialen Kontakten, auch aus Scham, dazu oftmals keine wirkliche Möglichkeit, einem Sportverein beizutreten, das alles begünstige eine negative Bildungskurve, so Schiffers, die die Bemühungen der Politik als viel zu unzureichend bezeichnet.
„Ich möchte nicht in der Haut einer alleinerziehenden Mutter stecken“, sagt die Kreisverbands-Vizevorsitzende ganz generell und fordert eine viel schnellere Umsetzung der Kindergrundsicherung. Anstatt ein Bürokratiemonster mit unzähligen neuen Stellen zu erschaffen, sollten die Behörden, die ohnehin mit den Leistungen aus dem SGB II-Gesetz befasst seien, die Kindergrundsicherung auszahlen.
Pflegebedarf am Niederrhein: VdK warnt vor Teufelskreis
Einen ähnlichen Teufelskreis beschreibt Horst Vöge im Pflegebereich. „Die meisten Pflegebedürftigen werden zu Hause gepflegt“, so Vöge. Die Zuzahlung für einen Heimplatz in NRW in Höhe von durchschnittlich 2800 Euro sei schließlich kaum leistbar. Durch den demografischen Wandel wachse der Pflegebedarf aber ständig weiter, und dadurch, so Vöge, könne sich eine Abwärtsspirale in Gang setzen, die auch die gesamte Volkwirtschaft belasten könne.
Vöges Szenario geht so: Mit dem steigenden Pflegebedarf verschärft sich der Fachkräftemangel, unter anderem, weil die geburtenstarken Jahrgänge sich langsam in die Rente verabschieden. Im stationären Bereich verringern sich die Kapazitäten, ergo bleiben mehr Menschen zu Hause, um sich um ihre Angehörigen zu kümmern, ohne weitere Leistungen zu beziehen. Die Überforderung wächst, genauso wie die Angst um die eigene berufliche und finanzielle Situation.
Am Ende könnten Arbeitslosigkeit oder eigene Erkrankungen drohen, so Vöge, der von der Politik eine deutliche Entlastung fordert. Zum einen eine Pflegevollversicherung, außerdem eine Anrechnung der Pflegezeit analog zur Elternzeit. Dazu eine bessere Rentenabsicherung sowie eine jährliche Erhöhung der ambulanten Leistungen und haushaltsnahen Hilfen.
Ob es dem VdK glingt, diese Forderungen durchzusetzen, wird sich zeigen. „Wir brauchen Geduld und Zielstrebigkeit“, sagt Vöge. Sozialpolitik sei ein Marathon. „Und wir haben den Atem dafür.“