Essen. Die Stadt Essen hat sich in einem Vergleichsvertrag verpflichtet, umstrittene Verkehrsprojekte umzusetzen und sich so faktisch entmachtet. Warum?
Ob es eine kluge Idee war, die Rüttenscheider Straße zu einer Fahrradstraße umzuwidmen und in einem zweiten Schritt nun auch die Autoverdrängung zu forcieren? Stadt und Stadtteil sind zerrissen zwischen Befürwortern und Gegnern, eine Befriedung ist nicht zu erwarten, übrigens auch nicht bei vielen Fahrradfahrern. Das Etikett Fahrradstraße hat bei ihnen Erwartungen geweckt, die wegen der vielen Funktionen dieser Straße gar nicht zu erfüllen sind. Kurios aber: Selbst wenn sich im Stadtrat als Vertretung der Bürgerschaft eine fiktive 100-Prozent-Mehrheit für eine Rückabwicklung finden würde, wäre dies schwer umzusetzen, denn die Stadt Essen hat ihre Autonomie in diesem Punkt schon vor Jahren abgegeben.
Wie das? Die Fahrradstraße Rü und einige andere konkret benannte Projekte – darunter auch der ebenfalls stark umstrittene Ausbau des Rad- und Fußwegs Grugatrasse – sind festgehalten in einem gerichtlichen Vergleichsvertrags mit dem Verein Deutsche Umwelthilfe und deshalb auf unabsehbare Zeit in Stein gemeißelt. Zwar war die Rüttenscheider Straße schon vorher Teil des Fahrrad-Hauptroutennetzes, von einer „Fahrradstraße“ mit all den damit verbundenen Auflagen war aber bis 2019 im Rathaus keine Rede.
Umwelthilfe hatte in Essen ein weitgehendes Fahrverbot für Dieselfahrzeuge erwirkt
Wie kann eine Stadt sehenden Auges eine derartige Aushebelung der kommunalen Selbstverwaltung herbeiführen? Zweifellos befand sich Essen im Jahr 2019, als der Vertrag entstand, verkehrspolitisch in einer schwierigen Lage: Vor dem Verwaltungsgericht hatte die Stadt in erster Instanz wegen zu hoher Stickstoffdioxid-Werte an zwei Messstellen in Frohnhausen und Kray gegen den Kläger Umwelthilfe den Kürzeren gezogen. Folge: Auf vielen Stadtstraßen drohte ein Fahrverbot für Diesel-Fahrzeuge.
Oberbürgermeister Thomas Kufen glaubte, auch in möglichen Berufungsinstanzen keine großen Chancen zu haben, was indes juristisch nie auf den Prüfstand gestellt wurde. Die Signale des Gerichts seien ungünstig für Essen gewesen, sagt Kufen im Rückblick. Wer den OB kennt weiß, dass er Risiken nicht mag und lieber nach Kompromissen sucht, wogegen zunächst nichts zu sagen ist. Schwierig wird es, wenn diese Kompromisse mehr einem Diktat gleichen.
Denn um die Umwelthilfe zur Rücknahme der Klage zu bewegen, nickten die städtischen Vertreter ein ganzes Paket an Vorhaben ab, eine Art Wunschliste, die nicht zuletzt unter tätiger Mithilfe der Essener Grünen und der hiesigen Fahrradverbände zustande kam. Die in Berlin und am Bodensee residierende Umwelthilfe hat schließlich selbst keine detaillierten lokalen Kenntnisse. „Wir waren mit den Initiativen in Essen im Austausch und sind das auch weiterhin“, sagt Robin Kulpa, Vizebereichsleiter Verkehr und Luftreinhaltung bei der Umwelthilfe, der die Gespräche mit der Stadt Essen führte.
Die Fahrverbote sollten weg – dafür war Kufen bereit, einen hohen Preis zu zahlen
„Für mich war entscheidend, dass wir die Fahrverbote schnell vom Tisch bekommen“, sagt Kufen heute. Dafür war der OB bereit, langfristig wirkende Zumutungen hinzunehmen, die in Essen viele als teuren Unsinn erleben – und die im Übrigen in der Sache oft wenig bis gar keinen Nutzen entfalten.
Der Messstelle an der A 40 in Frohnhausen, wo die Werte zu hoch waren und es weiter sind, ist es herzlich egal, wie viele Autos auf der Rüttenscheider Straße fahren. Selbst null Emissionen an der Rü hätten keinerlei Einfluss auf die Luftqualität an der Stadtautobahn. „Hier sind Äpfel mit Birnen verglichen worden“, sagt ein Essener Christdemokrat, der die Kritik allerdings nicht mit seinem Namen verknüpft wissen will. Ob die damalige Panik im Rathaus ein guter Ratgeber bei den Verhandlungen war, treibt aber nicht nur ihn um.
„Sensitive Ampelsteuerung“ führt zu Staus, die es vorher so gar nicht gab
Die Fahrradstraße Rü ist nicht die einzige Maßnahme, die wirkt, als sei sie mit heißer Nadel gestrickt. Ein weiteres Projekt im Vergleichsvertrag ist die kurios anmutenden Aufstellung von riesigen Anzeigetafeln auf der Alfredstraße, die Autofahrern empfehlen, die vierspurige Nord-Süd-Verbindung zu verlassen und sich auf Umwegfahrten zu begeben, um ans Ziel zu kommen. Zudem wird die Zufahrt auf die Alfredstraße reduziert, indem man die Rotphasen an den Ampeln verlängert. „Umweltsensitive Ampelsteuerung“ hat die Stadt das kostspielige Projekt getauft, das auf manchen Zufahrtsrouten, etwa der Norbertstraße an der Messe, zu Staus führt, die es vorher so gar nicht gab.
Schadstoffe senken zu wollen, indem man Autofahrer quasi zwingt, mehr Schadstoffe zu produzieren – so wirklich schlau wirkt das nicht. Und wer weniger Autos auf der Rüttenscheider Straße sehen will, sollte die Fahrer wohl kaum noch zusätzlich ermuntern, sie genau dorthin zu lenken, was die erwähnten Anzeigentafeln jedoch indirekt nahelegen. Das Projekt mit dem ebenso aufgedonnerten wie irreführenden Namen steht aber eben im Vergleichspapier und ist folglich sakrosankt.
Grugatrasse soll verbreitert werden, obwohl sie gut funktioniert
Ebenfalls im Vertrag festgehalten ist die Verbreiterung der Grugatrasse, die sehr viele Fahrrad-Praktiker, darunter auch Vielfahrer, für überflüssig halten. Für fünf Millionen Euro wird in den nächsten Jahren eine funktionierende, gut eingewachsene Radroute über eine Länge von rund vier Kilometern komplett aufgerissen, neu trassiert, von Bäumen und Sträuchern „befreit“, wobei die Komplexität der Bauarbeiten die Strecke mindestens ein bis zwei Jahre für den Radverkehr allenfalls noch abschnittsweise benutzbar machen. Auch hier kam es aber offenbar weniger auf den praktischen Zweck an als auf den politischen Showeffekt. Verbreiterung eines vielbefahrenen Radwegs – das klang erstmal gut.
Weitere vereinbarte Maßnahmen sind beispielsweise die kaum genutzte Umweltspur an der Schützenbahn, die Neubeschaffung und Nachrüstung von Bussen bei der Ruhrbahn, die geplante Elektrifizierung des städtischen Fuhrparks, der flächendeckende Ausbau mit E-Ladesäulen, die Förderung des Car-Sharings und eine Reihe von Projekten mehr.
Umwelthilfe treibt die Stadt vor sich her und zog jüngst eine vernichtende Bilanz
Die Umwelthilfe lässt sich kontinuierlich berichten, wie der Stand der Dinge bei „ihren“ Projekten ist und hat jüngst in einer ausführlichen Stellungnahme an die Bezirksregierung Düsseldorf eine vernichtende Bilanz zur Umwelt- und Verkehrspolitik der Stadt Essen gezogen: Auf nahezu allen Feldern bleibe die Stadt hinter den Erwartungen zurück, das „geringe Ambitionsniveau“ sei „vollkommen unverständlich“. Lob findet einzig die Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit auf der A 40 auf nunmehr noch 60 km/h.
Das gilt nach Ansicht des Vereins auch und gerade für die Rüttenscheider Straße, wo der Verein den Handlungsdruck auf die Stadt zuletzt stark erhöhte. „Dass die Stadt Essen das Projekt Fahrradstraße so dilettantisch umsetzt, hätten wir nicht gedacht“, sagt Robin Kulpa. Hier müsse „endlich nachgesteuert“ werden, was die Stadt nun zwar verspätet, aber letztlich doch wunschgemäß tun will. Und wie schon beim Vergleichsvertrag spielen sich die Umwelthilfe, die Essener Fahrrad-Initiativen und die Essener Grünen offenbar die Bälle zu: „Wir sind in Essen gut im Bilde und involviert“, bestätigt Robin Kulpa. Es gebe „zahlreiche Kontakte, die uns mit Informationen versorgen“.
Nicht überraschend: Auch Verkehrsdezernentin Simone Raskob, die den Grünen angehört, ließ öfter durchblicken, dass sie die Projekte inhaltlich für völlig richtig hält. Dazu passt, dass im Amt für Straßen und Verkehr die Förderung des Fahrradverkehrs seit geraumer Zeit ganz oben auf der Agenda steht und mit erheblicher Personalaufstockung einhergeht. Andererseits scheint die Umwelthilfe nicht ganz zufrieden: „Ich weiß nicht, ob wir ein bissschen naiv waren, als wir Frau Raskob geglaubt haben“, so Kulpa mit Blick auf die angebliche Ambitionsarmut der städtischen Politik. Auf der Bremse stand indes eher der OB, der weiß, wie unpopulär viele Maßnahmen sind.
Kommunalpolitik ist in verkehrspolitischen Fragen erpressbar geworden
Wie auch immer, der Eindruck ist übermächtig, dass die Essener Kommunalpolitik und die Stadtverwaltung durch den Vergleich ferngesteuert werden und in verkehrspolitischen Fragen regelrecht erpressbar sind. Zwar beteuert Robin Kulpa, man setze im Umgang mit den städtischen Vertretern „auf den Dialog“, lässt aber keinen Zweifel, dass die juristische Karte als Drohkulisse immer im Spiel ist – und im Zweifel auch gezogen würde.
Ein Umstand, der auch in Teilen der CDU als bedrückend wahrgenommen wird. Auf einer IHK-Veranstaltung zum Thema Rü schimpfte Ratsfraktionschef Fabian Schrumpf über Schadstoff-Grenzwerte, die „idiotisch und weltfremd“ seien und erklärte, die CDU könnte gut ohne die Autoverdrängung leben. Leider müsse man aber den Sachzwängen Rechnung tragen. Ob das in allen Details wirklich so unabdingbar war, muss offenbleiben, weil die Stadt die Sache nicht durchprozessiert hat, sondern klein beigab. Bleibt Essens Verkehrspolitik nun also auf ewig am Gängelband eines Umweltvereins?
Wenn alle Messstellen den Grenzwert einhalten, gibt es vielleicht einen Befreiungsschlag
Hinter den Kulissen laufen Überlegungen, den Vergleichsvertrag zu kündigen. „Das könnten wir aber erst riskieren, wenn alle Messstellen den Grenzwert einhalten“, heißt es aus der CDU. Sonst werde man vor Gericht wohl scheitern. Die Messstelle an der A 40 liegt, wie erwähnt, als einzige in Essen aber noch drüber, und ob Tempo 60 daran schnell etwas ändert, ist unwahrscheinlich. OB Thomas Kufen lässt sich zu diesem Thema so zitieren: „Die Verbesserung der Luftqualität in Essen bleibt weiterhin mein Ziel. Ob sich der Weg dorthin noch mit dem damals geschlossenen Vergleich mit der Deutschen Umwelthilfe deckt, wird weiter zu beobachten sein.“
Für die Rü käme die Rückgewinnung der kommunalen Handlungsfreiheit ohnehin zu spät. Am Donnerstag hat der Verkehrsausschuss mit den Stimmen von CDU und Grünen die Änderung der Verkehrsführung beschlossen. Die Dinge gehen nun ihren Gang.