Essen. Das Planungsbüro, das die Stadt berät, zeigt erstmals, wie man Autos von der Rüttenscheider Straße verdrängen will. Weitreichende Szenarien.
Die Stadt hat bei der Reduzierung des Autoverkehrs auf der Rüttenscheider Straße ehrgeizige Ziele. Das geht aus der nichtöffentlichen Präsentation des Dortmunder Planungsbüros „Planersocietät“ hervor, welches die Stadt derzeit bei der geplanten Änderung der Verkehrsführung auf der Rü berät. Die Präsentation liegt dieser Zeitung vor.
Demnach soll die Anzahl der Fahrzeuge, die durchschnittlich in einem Zeitraum von 24 Stunden die Rüttenscheider Straße befahren, von jetzt bis zu 12.000 auf dann noch maximal 4000 drastisch reduziert werden. Erreicht werden soll dies durch drei potenzielle Maßnahmen: Einbahnstraßen, die auch gegenläufig eingerichtet werden könnten, Abbiege-Zwänge bzw. Einfahrverbote für Autos und komplette Sperrungen einzelner Teilabschnitte der Straße. Freie Durchfahrt hätten an solchen Stellen dann nur Radfahrer sowie eingeschränkt Lieferanten und Busse.
Das Büro „Planersocietät“ – laut Eigenwerbung auf die Planung und Umsetzung kommunaler Verkehrswende-Szenarien spezialisiert – hat der Stadt und den Essener Verkehrspolitikern als Entscheidungsgrundlage 16 sogenannte „Planfälle“ vorgelegt, die sich stark voneinander unterscheiden. Die Bandbreite reicht von einfach gehaltenen Vorhaben wie etwa einer Einbahnstraße im zentralen Bereich der Rü von Martinstraße bis Klarastraße/Zweigertstraße („Stern“) bis hin zu komplexen Verkehrsmodellen, die mindestens zwei der drei Maßnahmen – Einbahnstraße, Abbiege-Zwänge und Sperrungen – miteinander kombinieren.
Rü könnte in Sektoren mit jeweils unterschiedlichen Verkehrsführungen aufgeteilt werden
Um die komplexeren Modelle umzusetzen, würde die rund zwei Kilometer lange Wohn-, Geschäfts- und Gastronomiestraße in einzelne Sektoren aufgeteilt, in denen dann jeweils unterschiedliche Verkehrsführungen gelten könnten. Nur Fahrräder hätten dann noch freie Fahrt in beide Richtungen, und auch von Einbahnstraßenregelungen und Abbiege-Zwängen wäre der Radverkehr ausgenommen. Radfahrer sind durch den Status der Rü als „Fahrradstraße“ zwar bereits jetzt privilegiert, doch beklagen die Radverbände, dass diese Privilegierung aufgrund des weiterhin hohen Autoverkehrs faktisch wertlos sei. Durch das weitere Zurückdrängen der Autofahrer soll das behoben werden.
Im Ranking der 16 Planfälle geben die Dortmunder Verkehrswende-Experten Empfehlungen mit Blick auf die erwünschte Gesamtwirkung, wobei dabei die größtmögliche Reduzierung des Autoverkehrs im Vordergrund steht. Abgeraten wird im Großen und Ganzen von den eher „einfachen“ Plänen, etwa der erwähnten Einbahnstraße im Kern. Empfohlen werden hingegen die komplexeren Modelle, die auch den größten Eingriff in das Verkehrsgeschehen nach sich zögen.
Planfall 4d will mit zwei Einbahnstraßen und zwei Sperrungen arbeiten
So enthält beispielsweise der Planfall 4d (siehe Grafik oben), dem zusammen mit einem anderen der höchste Wirkungsgrad attestiert wird, zwei entgegengesetzt angeordnete Einbahnstraßen-Abschnitte auf der Rü: eine zwischen „Stern“ und Martinstraße in Fahrtrichtung Süden, die andere von Witteringstraße bis Baumstraße in Richtung Norden. Gesperrt für private Pkw wäre der Rü-Bereich zwischen „Stern“ und Süthers Garten/Bertoldstraße, eine weitere Sperrung der Rüttenscheider Straße gäbe es zwischen Gummertstraße und Gußmannplatz im Süden der Rü. Käme diese Sperrung, soll auf einen dritten Einbahnstraßenbereich zwischen Grugaplatz und Gußmannplatz verzichtet werden, der dann auch keinen Sinn ergäbe.
Da die „Planersocietät“ als Ziel mehr als eine Halbierung des Autoverkehrs angibt, kann es bei den Rüttenscheider Plänen nicht mehr nur um das Unterbinden des klassischen Durchgangsverkehrs gehen, was ursprüngliche Intention war. Der Anteil derjenigen Autofahrer, die jetzt die Rü vom einen bis zum anderen Ende durchfahren, ist aber nur gering und dürfte unter zehn Prozent liegen, denn dafür ist die Alfredstraße selbst an verkehrsstarken Tagen weit besser geeignet.
An manchen Messetagen ist auch die Rü im verkehrlichen Ausnahmezustand
Ausnahmen sind allerdings die zwei, drei großen Publikumsmessen, wenn sich Rüttenscheid generell im verkehrlichen Ausnahmezustand befindet. Am Donnerstag (5.10.) zu Beginn der „Spiel“ war das wieder zu besichtigen. Die Rü wurde vormittags zur Stau-Straße, weil nicht zuletzt viele Auswärtige versuchten, hier der überlasteten Alfredstraße zu entkommen. Vollkommen vergeblich allerdings.
Ansonsten aber stellt sich die Frage, was genau eigentlich unter Durchgangsverkehr zu verstehen ist. Bei einer Verkehrszählung im Jahr 2021 hat die Stadt schon jene Autos als Durchgangsverkehr definiert, die nur von der Witteringstraße bis zum Stern fahren und ihren Anteil am Gesamtverkehr auf der Rü mit 25 Prozent angegeben. Doch ist das logisch? Wer zum Stern fährt, könnte dort ja durchaus ein Rüttenscheider Ziel ansteuern.
Es geht erklärtermaßen inzwischen um mehr als den Durchgangsverkehr
Das beauftragte Dortmunder Büro definiert den Begriff hingegen zutreffend für die gesamte Länge der Rü. Um die gewünschte Reduzierung überhaupt erreichen zu können, sollen deshalb nun erklärtermaßen auch Autofahrer, die ein Ziel auf der Rü ansteuern, auf diese Straße „erst kurz vor dem Ziel einbiegen“ dürfen, wie es in der Präsentation heißt. Umgekehrt soll, wer auf der Rü mit dem Auto startet, diese „möglichst schnell verlassen“.
Diese weitergehenden Ziele, ohne die eine Kfz-Halbierung wohl gar nicht möglich wäre, machen die gesamte Sache aber notwendigerweise kompliziert. Es droht nicht nur eine Mehrbelastung für die Wohnnebenstraßen durch Umwegfahrten, es drohen auch Nachteile für Gewerbetreibende aller Art, die die Rüttenscheider Straße stark prägen und dann für Anlieferer und autofahrende Kunden schlechter erreichbar wären. Folglich kursieren bereits Protestschreiben, die auch OB Thomas Kufen erreichten. Dieser soll nach der Vorstellung der Stadtratskoalition aus CDU und Grünen eine „Prozessbegleitung“ moderieren, die möglichst alle Beteiligten und Betroffenen zufriedenstellt. Das dürfte eine Herkulesaufgabe werden.