Essen. Vor erbosten Einzelhändlern beklagt CDU-Fraktionschef Fabian Schrumpf „idiotische“ Grenzwerte, die Maßnahmen erzwingen, die man gar nicht wolle.
Eine Verkehrsplanung zu rechtfertigen, hinter der man politisch gar nicht steht – für Fabian Schrumpf war das „Dialogforum Rüttenscheid“ in den Räumen der Essener IHK kein leichter Termin. Der CDU-Landtagsabgeordnete und Vorsitzende der CDU-Fraktion im Stadtrat hatte jüngst die undankbare Aufgabe, den versammelten und fast ausschließlich skeptischen Einzelhändlern und Gewerbetreibenden zu erklären, warum die schwarz-grüne Ratskoalition, auf der Rüttenscheider Straße den Autoverkehr unter allen Umständen zurückdrängen will.
Schrumpf, selbst Jurist, machte für die Pläne ausschließlich juristische Sachzwänge geltend: „Die CDU-Fraktion könnte sich vorstellen, dass alles bleibt, wie es ist“, betonte er. Der Vergleichsvertrag mit der Deutschen Umwelthilfe, der im Jahr 2019 zwecks Abwendung von Fahrverboten abgeschlossen wurde, enthalte aber nun einmal neben vielen anderen Projekten auch die Umwidmung der Rüttenscheider Straße in eine Fahrradstraße. „Und wenn diese Fahrradstraße nicht gut funktioniert, weil zu viele Autos fahren, dann sind wir als Stadt Essen gezwungen zu handeln.“
CDU-Fraktionschef nennt den Stickstoffdioxid-Grenzwert „idiotisch und weltfremd“
Der folgenschwere Vergleichsvertrag war nötig geworden, weil die Stadt Essen den Grenzwert für Stickstoffdioxid von 40 Milligramm pro Kubikmeter Luft an zwei Stellen knapp überschritten hatte – nicht in Rüttenscheid übrigens, aber das spielte rechtlich keine Rolle. „Idiotisch und weltfremd“ nannte Schrumpf im IHK-Forum diesen aus seiner Sicht zu hohen Grenzwert, aber juristisch hing man fortan am Fliegenfänger: „Es drohten Fahrverbote für Diesel-Fahrzeuge auf der A 40 und in 18 Essener Stadtteilen“, erinnerte der CDU-Politiker.
Um das zu vermeiden, habe man dem Kläger Deutsche Umwelthilfe mit seinem Forderungskatalog damals weit entgegenkommen müssen, damit die Klage zurückgezogen wurde – und das betreffe nun eben auch die Rüttenscheider Straße. Schrumpf bekannte offen, er habe „auch Bauchschmerzen bei diesem Verein“, allerdings sei Kommunalpolitik kein Wunschkonzert. Auf seinen Koalitionspartner, die Essener Grünen, ging Schrumpf nicht weiter ein. Auch die Grünen hatten die CDU aber stark unter Druck gesetzt und dem Vernehmen sogar mit dem Aus der festen Zusammenarbeit im Rat gedroht, sollte an der Rü nichts in ihrem Sinne passieren.
Die Einzelhändler beim IHK-Termin interessierte die Zwangslage der CDU indes wenig, sie sehen schlicht in der Sache keinen Anlass für Veränderungen, und es umtreibt sie Angst um ihre Existenz. „Ich habe 2019 mein Geschäft in der Essener Innenstadt aufgegeben und bin nach Rüttenscheid gekommen“, erzählt der bundesweit tätige Modefilialist Peter von Drathen unter großem Beifall. Nicht zuletzt die Anti-Auto-Politik in der City und der damit verbundene Niedergang habe diesen Schritt nötig gemacht. „Ich habe gedacht, in Rüttenscheid ist die Welt noch in Ordnung, aber die Freude war von kurzer Dauer.“
Laut Umfragen der Einzelhändler kommen die weitaus meisten Kunden mit dem Auto
Von Drathen hat nach eigenen Angaben bei seinen Kunden nachgefragt, wie sie in sein Geschäft gelangen, und dabei ein klares Bild gespiegelt bekommen: „Von den 376 Befragten kamen 80 Prozent mit dem Auto, zehn Prozent zu Fuß, acht Prozent mit Bus und Bahn und zwei Prozent mit dem Fahrrad.“ Das sei wohl eindeutig und mache deutlich, dass man sich zurecht um den Standort sorge, sollte die Stadt ihre Autoverdrängungspläne umsetzen. „Von Modellen und Theorien halte ich nichts, ich schaue mir nur die Realität an“, so von Drathen. „Und der Kunde bestimmt, niemand sonst!“
Mehrere weitere Geschäftsleute berichteten von ähnlichen Meinungsbildern, die sie bei ihren Kunden erhoben hätten. Autofahrer-Anteile von 70 Prozent seien die Regel. Wie solle das folgenlos bleiben, wenn die Stadt erklärtermaßen ihren Anteil halbieren will? Stephan Neumann, Ratsherr der Grünen und Befürworter der Rü-Maßnahmen, führte dagegen Untersuchungen ins Feld, wonach Einzelhändler das Auto stark überschätzten. „Die Leute kommen häufig mit dem Rad, zu Fuß oder mit dem ÖPNV.“ Da dies jedoch mit den Praxiserfahrungen der Anwesenden kollidierte, hatte Neumann keinen leichten Stand.
In keinem Mittelzentrum seien Verkehrsexperimente für den Einzelhandel je gut ausgegangen
Patrick Ulbrich ist nicht nur Inhaber einer Modeboutique an der Emmastraße, er plant im Auftrag einer Modefirma auch bundesweit Expansionen. Er kenne kein Mittelzentrum, in dem Verkehrsexperimente dieser Art für den Einzelhandel gut ausgegangen seien. Das werde auch für Rüttenscheid gelten, warnte er bei der IHK. Im Übrigen stimme die Reihenfolge nicht: „Warum beschäftigen wir uns als Erstes damit, die Kunden zu verdrängen statt zunächst mal die Parksituation zu verbessern?“
Tanja Weinand, Chefin von „Denn’s Biomarkt“ an der unteren Rü, hätte mancher vielleicht eher bei den Maßnahmen-Befürwortern verortet. Auch sie äußerte sich aber skeptisch: „Der Lebensmittel-Einzelhandel lebt davon, dass er mit dem Auto erreichbar ist.“ Das gelte auch für das Bio-Segment. Viele Kunden würden Großeinkäufe tätigen, die sie dann auch bequem transportieren wollten. Und Aydin Ünver, Besitzer des Imbisses „Döna“, passt der ganze Stil des städtischen Vorgehens nicht: „Friss oder stirb – das kann es nicht sein, es ist respektlos uns gegenüber.“
Herbert Bas, langjähriger Inhaber der Glocken-Apotheke, berichtete von der Rü-Sperrung vor 30 Jahren, die ihn damals 50 Prozent des Umsatzes gekostet habe und erinnerte an das Schicksal der Gemarkenstraße in Holsterhausen, die sich beim Geschäftsbesatz mal auf ähnlichem Niveau wie die Rüttenscheider Straße bewegte, heute aber nicht zuletzt wegen Verkehrsexperimenten herabgesunken sei. „Ich verstehe nicht, weshalb man etwas kaputt machen will, das gut funktioniert.“
Einzelhändler in Rüttenscheid rufen zu einer Demonstration auf
Das beklagten so oder ähnlich unisono alle Einzelhändler, die auch deshalb für Samstag, 28. Oktober zu einer Demo aufrufen – wohl eine Premiere für den Einzelhandel in Essen. Unter den Gewerbetreibenden sah einzig Eckart Waage, Inhaber einer Media-Dienstleistungsagentur, beim IHK-Forum die Auto-Verdrängungen schon aus umweltpolitischen Gründen positiv: „In den Köpfen muss es Klick machen.“ Er befürchte keine negativen Auswirkungen.
So sieht es auch Grünen-Politiker Stephan Neumann: „Die Leute gewöhnen sich schnell an neue Fahrbeziehungen“, glaubt er. Was Neumann zumindest beim IHK-Treffen nicht sagte: In einer Pressemitteilung zu den Plänen sprechen die Grünen von einem „ersten konsequenten Schritt“, den man sich „auch mutiger“ hätte vorstellen können. „Die dauerhafte Einrichtung einer Sperrzone zwischen dem Rüttenscheider Stern und der Bertoldstraße, die für den Radverkehr und den Nachtexpress freigegeben ist, würde die Attraktivität und Aufenthaltsqualität steigern“, heißt es. Geplant hat die Stadt die Sperrzone auf Druck der CDU vorerst nur freitags und samstags ab 20 Uhr.
Folgen auf den „ersten Schritt“ bald weitere Maßnahmen zur Autoverdrängung?
Folgen auf den „ersten Schritt“ also recht bald weitere, falls die jetzt geplanten Maßnahmen für die angestrebte Halbierung des Autoverkehrs auf der Rü nicht ausreichen sollten, wie Christian Bexen vom beauftragten Büro „Planersocietät“ schon vorsorglich prophezeite? CDU-Fraktionschef Fabian Schrumpf versprach den Einzelhändlern zum Schluss des Termins eher das Gegenteil: Sollte es zu größeren Problemen kommen, werde die Politik „gegensteuern“. Wie das unter den kommunalpolitischen und juristischen Umständen möglich sein soll, sagte er allerdings nicht.