Essen. Auffällig viele Tore aus der Distanz fielen zuletzt von der Bundes- bis zur Kreisliga. Trainer und Ex-Torwart erklären, warum das so ist.

Der Spieler nimmt Maß, holt aus. Der Ball liegt eine gefühlte Ewigkeit in der Luft, der Torhüter sprintet zurück und streckt sich nach der Kugel – vergeblich. Das Spielgerät schlägt hinter Linie ein, Tor, Jubel. Das nächste Traumtor, was allerdings immer mehr an Seltenheitswert verliert.

Dieses Muster war von der Bundes- bis zur Kreisliga in den vergangenen Wochen in überraschend regelmäßigen Abständen erkennbar. Beim Tor des Monats Oktober von der ARD-Sportschau fielen gleich vier der fünf nominierten Tore aus großer Distanz – unter anderem Harry Kanes Treffer von der Mittellinie beim 8:0-Heimsieg des FC Bayern gegen den SV Darmstadt. Außerdem trafen Fabian Schleusener (Karlsruher SC), Antonia Halverkamps (MSV Duisburg) und Florent Muslija (SC Paderborn) aus der Ferne. In der Mülheimer Bezirksliga profitierte zuletzt der 1. FC Mülheim, als Kaan Atik und Michael Siminenko den Ball beim 3:2-Heimsieg gegen den Mülheimer SV 07 aus 40 beziehungsweise 30 Metern im Winkel versenkten.

Schonnebeck-Trainer Tönnies: Torhüter denken offensiver

„Ich glaube, dass es an der offensiven Ausrichtung der Torhüter, die im modernen Fußball sehr viel mitspielen, hochstehen und den Spielaufbau mit eingebunden werden, liegt“, erklärt Dirk Tönnies das Muster. Der Trainer der Spvg. Schonnebeck wurde kürzlich ebenfalls Zeuge eines Weitschuss-Tores, als Torhüter Lukas Lingk sich vergeblich streckte und der 1. FC Büderich zur zwischenzeitlichen Führung bei der 1:2-Niederlage in Essen traf.

Weitere Berichte aus dem Amateurfußball

„Der Torwart muss dieses Risiko gehen und wird heutzutage häufiger bestraft als früher.“ Das sei aber gut so, meint Tönnies, „weil ich, auch speziell auf Lukas Lingk bezogen, lieber einen offensiv denkenden Torhüter habe als den, der auf der Linie klebt und das vermeidet.“ Torhüter, die vor allem auf der Linie ihre Stärken haben, aber Defizite mit dem Ball am Fuß aufweisen, haben einen immer schwereren Stand und sind nicht mehr so gefragt wie noch in der Vergangenheit. Bestes Beispiel dafür: Ralf Fährmann beim Zweitligisten FC Schalke 04.

Schonnebeck-Trainer Dirk Tönnies spricht über die Rolle des Torhüters.
Schonnebeck-Trainer Dirk Tönnies spricht über die Rolle des Torhüters. © FUNKE Foto Services | Michael Gohl

Frohnhausens Trainer sieht Vorzüge des modernen Torwartspiels

Eine ähnliche Sichtweise hat Issam Said, ehemaliger Torhüter und heute Trainer des Essener Landesligisten VfB Frohnhausen. Er sagt: „Wenn wir hoch pressen, kann es immer mal sein, dass der Torwart mal schläfrig ist, am Sechszehner steht und ein abgezockter Spieler das erkennt und mit seinem feinen Fuß den Torwart von der Mittellinie überspielt.“

Said sieht allerdings auch die Vorzüge des modernen Torwartspiels, weil die Torhüter sich mit Diagonalbällen besser am Spiel beteiligen und schneller reagieren können. Der 46-Jährige, der gleichzeitig die Essener Filiale des Sportfachhandels Sport Duwe betreibt, hat allerdings auch noch einen anderen Ansatz: Die Bälle, die sich in den letzten Jahren verändert haben.

Der Ball macht ebenfalls einen großen Unterschied

„Die Bälle sind heute viel, viel leichter und haben einen anderen Grip“, erklärt Said. „Das heißt, dass du gar nicht mehr großartig gegen den Ball treten musst. Mit ein bisschen Effet und Schwung können die Bälle mittlerweile 30 oder 40 Meter weiter fliegen als früher.“ Das habe mit dem Material zu tun. „Umso teurer der Ball wird, desto leichter ist er und mehr Effet hat er. Der Ball hat jedenfalls eine Mitschuld daran, dass die Torhüter so viele Probleme bekommen.“

Ein Foto aus dem Sommer 2009: Issam Said als Torwart der TGD West – mit den damaligen Spielbällen.
Ein Foto aus dem Sommer 2009: Issam Said als Torwart der TGD West – mit den damaligen Spielbällen. © Michael Gohl | Michael Gohl

Auch in den Amateurligen wird in der Regel mit den Bundesliga-Spielbällen oder sehr ähnlichen gezockt. Said ist sicher, seine Mannschaft profitiere davon, „weil unsere Spieler, die nicht so gut schießen können, mit diesem Ball etwas besser aussehen“. Noch vor zehn Jahren sei mit „knochenharten Bällen“ gespielt worden, gegen die man im Winter nicht treten konnte.

„In den vergangenen fünf, sechs Jahren haben sich die Bälle nach vorne entwickelt. Inzwischen ist es nur noch reine Luft mit ein bisschen Blase drumherum“, erklärt Said, der seinerzeit 15 Jahre bei TGD Essen-West und zwei Jahre beim FC Kray in der Landesliga zwischen den Pfosten stand. „Zu meiner Zeit warst du schon ein guter Torhüter, wenn du auf der Linie gut warst. Heute muss ein Torwart eigentlich alles können: Auf der Linie, mit dem Ball am Fuß, Strafraumbeherrschung. Das hat sich schon weiterentwickelt.“