Gelsenkirchen. Vor rund einem Jahr wurde Geraerts zum „Trainer des Jahres“ in Belgien gewählt. Ist er auf Schalke der richtige Mann am richtigen Ort?
Es ist erst rund elf Monate her, da war Karel Geraerts in Belgien der offiziell ausgezeichnete „Trainer des Jahres“, schon in seinem ersten Jahr als Cheftrainer. Die Zeitung „De Standaard“ bezeichnete ihn sogar als „Zauberer“, als er mit seinem Ex-Klub Union St. Gilloise im Europa-League-Viertelfinale bei Bayer Leverkusen ein 1:1 erreichte. Rund ein Jahr später aber steckt der 42 Jahre alte Trainer mit seinem neuen Klub Schalke 04 im Abstiegskampf der 2. Bundesliga und hat mit viel Unruhe in und um die Mannschaft herum zu kämpfen. Riskiert er seinen guten Ruf? Sind seine sportlichen Ambitionen zu hoch für die Kader-Realität? Ist er der richtige Mann am richtigen Ort? Wir gehen diesen Fragen auf den Grund.
Geraerts hatte St. Gilloise, einen Klub aus einem Stadtteil der Hauptstadt Brüssel, im Juni 2022 von Felice Mazzu übernommen, nachdem er zuvor drei Jahre lang Co-Trainer gewesen war. Er feierte große Erfolge, spielte lange um den Meistertitel mit, wurde am Ende der Saison 2022/2023 Zweiter. Zudem erreichte St. Gilloise das Halbfinale des belgischen Pokals und scheiterte knapp an Xabi Alonsos Leverkusen. Er machte Victor Boniface zu einem europäischen Top-Stürmer mit einem Marktwert von 40 Millionen Euro. Dass er im Anschluss an sein erstes Jahr als Cheftrainer gehen musste, hatte mit Unstimmigkeiten rund um Vertragsverhandlungen zu tun. Danach hätte er in die Ligue 1 Frankreichs wechseln können, hatte Anfragen aus Nizza, Lorient und Straßburg. Das war erst vor ein paar Monaten.
Schalke-Trainer Geraerts: 113 Tore in 57 Saisonspielen mit St. Gilloise
Doch warum war er so erfolgreich und beliebt in Belgien? Wie ließ Geraerts sein Team spielen? Sein bevorzugtes Spielsystem ist die 3-5-2-Taktik mit einer großen Bedeutung der Schienenspieler für die Offensive. So mancher Schalke-Fan würde aktuell gern eine Spielidee erkennen, in St. Gilloise gab es die. Der Fokus lag auf Angriffen über außen, Erfolg sollten aber nicht nur Flanken bringen, sondern auch Doppelpässe und One-Touch-Fußball, um den Außenspieler hinter die letzte Abwehrlinie des Gegners zu bringen. Mit dieser Taktik erzielte Geraerts‘ Team 113 Tore in 57 Pflichtspielen, blieb zwischen November 2022 und Februar 2023 in 13 Partien in Folge unbesiegt (11 Siege, 2 Unentschieden) - trotz starker nationaler Gegner wie Lüttich, Antwerpen und Brügge.
Und auf Schalke?
Als er am 9. Oktober übernahm, wollte er sein 3-5-2-System auch bei den Königsblauen installieren, doch schon im ersten Spiel beim Karlsruher SC (0:3) ging das so schief, dass er zur Pause umstellte. „Als ich kam, haben wir ein 3-5-2 gespielt, da ging es Auf und Ab. Mit einem 4-4-2 mit Raute im Mittelfeld hatten wir vor Weihnachten eine gute Phase, haben sieben Punkte in drei Spielen geholt. In der Rückrunde sind wir mit dieser Taktik aber nicht gut gestartet“, sagte Geraerts. Er stellte wieder um, diesmal auf ein 4-2-2-2. „Ich schaue nach der besten Strategie für die Spieler, die mir zur Verfügung stehen“, sagte er dazu.
Zufrieden kann ihn das nicht machen. Verlangt er zu viel von seinen Spielern? Klar ist: Für ein 3-5-2 fehlt ihm das passende Personal. Wären beispielsweise Thomas Ouwejan und Derry Murkin perfekte Schienenspieler für die linke Seite, fehlt rechts jemand. Henning Matriciani und Cedric Brunner haben - so drückt es Geraerts aus - ein „defensives Profil“, Doppelpässe und scharfe Flanken sind ihnen nicht zuzutrauen. Darko Churlinov und Yusuf Kabadayi haben hingegen große Schwächen in der Defensive. Brandon Soppy, der zur Rückrunde diese Lücke schließen sollte, ist nicht fit. Geraerts trägt das mit Fassung, sagt: „Es ist wie es ist.“ Einen Stürmer mit ähnlichem Profil wie Boniface hat er ebenso nicht im Kader. Die Mannschaft fühlt sich in einem System mit Viererkette wohler, sprach das nach einigen Niederlagen in der Hinrunde an. Dominick Drexler beispielsweise kritisierte Geraerts in einer Teamsystem nach dem 3:5 in Düsseldorf für die seiner Meinung nach verkehrte Taktik. Geraerts hatte in einem 3-5-2 spielen lassen, es beim Stand von 0:3 in der 33. Minute aber wieder geändert.
Sportlich muss Geraerts aktuell seine Ambitionen herunterschrauben. In Belgien hatte er nicht nur Boniface in seinem Team, sondern weitere Top-Spieler, die er für hochklassige Ligen oder Teams ausbildete - drei Beispiele sind Teddy Teuma (Marktwert 7 Millionen Euro, wechselte zu Stade Reims), Simon Adringa (war für ein Jahr von Brighton ausgeliehen, steigerte seinen Marktwert unter Geraerts von 1,5 auf 10 Millionen Euro) und Bart Nieuwkoop (Marktwert 4 Millionen Euro, wechselte zu Feyenoord Rotterdam). Mit Ausnahme von Assan Ouédraogo gibt es auf Schalke kein Top-Talent, und Ouédraogo ist seit Monaten verletzt.
Was Geraerts auf Schalke bisher nicht hinbekommen hat: Die Mannschaft zeigt keine Konstanz, im Gegensatz zu St. Gilloise. „Unglücklicherweise ist das die Situation in der gesamten Saison - ein Auf und Ab, Auf und Ab, Auf und Ab. Für uns ist es sehr schwierig, zwei Spiele in Folge zu gewinnen“, sagte er. Er würde da auch immer wieder selbst in den Spiegel schauen. Versucht hat er in seiner vier Monate andauernden Amtszeit viel - mehrere Strategien beispielsweise, alles von null bis sechs Änderungen in der Startelf. Er wurde in der Halbzeitpause laut (wie im ersten Spiel in Karlsruhe), leise (der normale Umgangston) und ließ einmal den damaligen Sportdirektor André Hechelmann schimpfen (in Düsseldorf). Er führt viele Einzelgespräche, zeigt den Spielern Videos, nahm sich im Trainingslager in Portugal Zeit für jeden. Aus Teamsitzungen wurden auch mal Aussprachen, da durften auch Spieler ihre Meinung sagen - wie Drexler nach dem Düsseldorf-Spiel. Er beherrscht härtere und sanftere Trainingseinheiten - und eine gute Trainingssteuerung. Aktuell hat kein Schalker eine Muskelverletzung - das gab es lange nicht, da gibt es nichts zu meckern. Sportdirektor Marc Wilmots lobt Geraerts‘ Trainingseinheiten stets.
Geraerts ist ohne Zweifel ein sehr guter Trainer mit einer klaren Vorstellung von Fußball, klaren Prinzipien und einer deutlichen Ansprache. Dass er Pressekonferenzen und Interviews auf Englisch hält, ist im Tagesablauf mit den Profis kein Problem - für manche Fans mag es etwas unglücklich sein. Aber Geraerts arbeitet an sich, nimmt Deutsch-Unterricht, kann sich gut verständigen. Er fühlt sich wohl in seinem Appartement in Gelsenkirchen-Buer, seine fünf Kinder besuchen ihn häufig, leben aber weiter in Belgien, damit er sich auf den Job konzentrieren kann.
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Die Opfer, die er dafür bringt, Schalke-Trainer zu sein, machen ihn selbstbewusst. Aktuell geht er deshalb Konflikte mit Wilmots und Führungsspieler Dominick Drexler ein - ein riskanter Weg in einer sportlichen Krise bei einem Verein, der auf mehrere schlechte Spiele in Folge schneller mit einem Trainerwechsel reagiert als andere. Er habe bei Entscheidungen rund um die Mannschaft immer das letzte Wort, nicht Wilmots, sagte Geraerts. Und Drexler kanzelte er für schlechte Trainingsleistungen öffentlich ab.
Schalke trifft am Samstag auf den SV Wehen Wiesbaden
Am Samstag (13 Uhr/Sky) trifft Schalke auf den SV Wehen Wiesbaden. Droht Geraerts sogar der Rauswurf, wenn die Mannschaft schlecht spielen und dann noch verlieren sollte? Nichts deutet aktuell darauf hin, nach der 0:1-Niederlage in Kiel verteidigte Wilmots seinen belgischen Landsmann, sprach von „Kontinuität“ als Ziel. Gleichzeitig lautet eine der wichtigsten Schalke-Regeln seit Jahrzehnten: „Ein Trainerwechsel ist jederzeit möglich.“ Auch ein Rücktritt des Trainers ist nicht in Sicht, er wirkt sehr kämpferisch.
Geraerts‘ Ruf aber würde ein Rauswurf oder Rücktritt nicht schaden. Im Gegenteil - Umgang mit Druck, Abstiegskampf, eine Station im Ausland, viel hätte der noch junge Trainer dazugelernt. Es ist wahrscheinlich, dass seine Trainerkarriere eine erfolgreiche wird. Für den Absturz in den Abstiegskampf der Zweiten Liga sorgte vor allem der komplett verpatzte Transfersommer 2023, in dem Hechelmann keine glückliche Hand bewiesen hatte. Dessen Trainerauswahl war sehr gut. Geraerts ist ein Trainer mit hohen Ambitionen, der richtige Mann am richtigen Ort - aber vielleicht zur falschen Zeit. Ausgeschlossen ist es nicht, dass seine Amtszeit länger dauert als nur ein paar Monate, wenn ihm der Klassenerhalt gelingt. Ein schnelles Ende bei weiteren Niederlagen ist aber ebenso möglich.
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