Budapest. Sprinterin Sha’Carri Richardson überwand viele Rückschläge. Nun ist die US-Athletin die schnellste Frau der Welt -- und sie will noch mehr

Als Sha’Carri Richardson als schnellste Frau der Welt im Zieleinlauf stand, hatte ihr Gesicht das noch nicht mitbekommen. Augen und Mund waren weit aufgerissen, ihre Züge waren wie eingefroren in dem Moment, der zwischen Unglauben, Erstaunen und Erkenntnis liegt. Kollegin um Kollegin kam herbei und gratulierte der US-Amerikanerin.

Gerade war Sha’Carri Richardson bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Budapest phänomenal zum Sieg über die 100 Meter gestürmt. Als sie dies dann endlich auch selbst realisierte, schrie sie ihre Freude heraus, schnappte sich eine USA-Fahne und flitzte damit über die Tartanbahn, dass die Kameraleute kaum folgen konnten.

Erste WM-Teilnahme, erste Goldmedaille

Bei ihrer ersten WM-Teilnahme sicherte sich die 23-Jährige gleich den wichtigsten Titel ihrer Sportart. In 10,65 Sekunden, die Meisterschaftsrekord bedeuteten, war sie auf Bahn neun, ganz am Rand, spektakulär an allen vorbeigezogen. Dem jamaikanische Duo Shericka Jackson (10,72) und Shelly-Ann Fraser-Pryce (10,75) – Serienweltmeisterin und Titelverteidigerin – blieb nur Silber und Bronze. „Das ist definitiv ein guter Start auf meiner Reise“, sagt Sha’Carri Richardson später. „Es ist eine Ehre, diese WM mit der Goldmedaille zu verlassen.“ Sie folgte Noah Lyles (23), der einen Tag zuvor den Sprint der Männer gewonnen hatte – erstmals seit 2017 stellen die USA wieder beide 100-Meter-Sieger. Und wie Lyles bringt auch Richardson mehr mit als nur schnelle Zeiten.

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Sie sieht mit ihren vielen Tattoos, starker Schminke, wilden Frisuren und oft absurd langen Fingernägeln nicht nur aus wie ein Star – sie orientiert sich auch an einem. Die zweimalige Olympiasiegerin Florence Griffith-Joyner, deren 100-Meter-Weltrekord (10,49) bis heute Bestand hat, kombinierte schnelles Laufen ebenfalls mit extravagantem Aussehen.

Für Richardson ist die 1998 verstorbene US-Amerikanerin ein Vorbild, auch wenn deren Karriere von – unbewiesenen – Dopingvorwürfen begleitet war. Wie Noah Lyles hat Sha’Carri Richardson nicht nur Star-Potenzial und den Glauben, Großes vollbringen zu können, sondern auch eine bemerkenswerte Geschichte.

Lückenkemper als 15. raus

Weil diese bislang alles andere als gradlinig verlief, passte es zur Dramatik, dass sie um ein Haar das Finale verpasst hätte. Nach einem schwachen Halbfinale, in dem auch Gina Lückenkemper als Gesamt-15. ausschied, konnte die Texanerin sich nur über die Zeit qualifizieren. Sprechen wollte sie darüber später nicht mehr. Ihr Mantra lautete: „Gib niemals auf! Lass niemals zu, dass die Medien oder andere Außenstehende dich runterziehen. Du selbst musst kämpfen und dein Schicksal bestimmen.“

Was nach Du-musst-nur-an-dich-glauben-dann-wird-alles-gut-Philosophie aus amerikanischen Teenie-Filmen klingt, ist weit mehr als ein Kalenderspruch. Dieser Satz konserviert den harten Weg, den Sha’Carri Richardson trotz ihrer jungen Jahre bereits gegangen ist.

Nicht für olympische Spiele nominiert

Aufgewachsen bei ihrer Großmutter, kam das Mädchen aus Dallas in der dritten Klasse zur Leichtathletik. Schon früh erkannte man ihr Sprint-Talent. 2021 sollte ihr Stern international bei den Olympischen Spielen in Tokio aufgehen. Doch weil sie Marihuana geraucht hatte, wurde sie von der US-Anti-Doping-Agentur für zwei Monate gesperrt. Anschließend verzichtete der US-Verband darauf, sie zu nominieren. Sha’Carri Richardson leugnete ihren Verstoß nie.

Vielmehr machte sie durch ihre Erklärung, sie sei „im Zustand emotionalen Schmerzes“ gewesen, weil sie nicht wusste, wie sie mit dem plötzlichen Tod ihrer Mutter umgehen sollte, auf mentale Probleme aufmerksam. Es folgte prominente Unterstützung – US-Präsident Joe Biden appellierte, die Doping-Regeln zu überdenken. Derzeit prüft die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, Cannabis von der Verbotsliste zu nehmen.

„Ich werde noch besser werden“

Sha’Carri Richardson half dies nicht mehr, sie musste weiterkämpfen. 2022 lief sie Jahresbestzeit. Weil sie bei den US-Meisterschaften aber nicht vorne lag, blieb die Nominierung für die Heim-WM in Eugene/Oregon aus. Ein weiterer Rückschlag. Doch sie gab nicht auf – und wurde belohnt. In diesem Jahr gewann sie erst den nationalen Titel und nun auch die WM – eine große Genugtuung. „Ich bin nicht zurück“, pflegt Richardson zu sagen, denn ihrer Ansicht nach war sie nie weg. „Ich bin besser – und ich werde noch besser werden.“

Zeigen, wer sie wirklich ist

Eine ernstzunehmende Ansage, man kann nur erahnen, was noch in ihr schlummert. Vergleicht man ihren Karriereweg mit ihrem Sport, müsste sie eigentlich Hürdensprinterin sein, so viele Hindernisse wurden bereits überwunden. Doch auch das gehört zu ihrer Geschichte – sie überwindet, was sie bremst, sportlich wie privat, und findet ihren Weg. Sie ist offen homosexuell, sie erhebt ihre Stimme für gesellschaftlich relevante Themen und ruft andere dazu auf, sich gegen Missstände zu wehren.

Auch nach ihrem Triumph von Budapest wollte sie sich nicht auf das rein Sportliche reduzieren lassen. „Es fühlt sich großartig an, dass die Leute mich nicht nur als Athletin, sondern als Person wahrnehmen“, sagt Sha’Carri Richardson. „Ich habe das Gefühl, dass es meine größte Errungenschaft ist, dass die Leute meine Persönlichkeit sehen. Alles, was du bist, bringst du auf die Bahn. Und du bringst den Athleten, der du bist, in dein Leben. Es gibt keine Trennung. Ich bin froh, zeigen zu können, wer ich wirklich bin.“