Dortmund. Lars Rettstadts Vater fuhr Bagger. Der 55-Jährige ist Hausarzt in Dortmund. An stressigen Montagen hilft ihm vor allem eins.
Es ist 7.30 Uhr an einem Montagmorgen in Dortmund-Scharnhorst und da stehen sie schon in Reih und Glied: Gut ein Dutzend Menschen warten im fahlen Licht einer Reklame und starren auf das heruntergelassene Rolltor der „Hausarztpraxis Rettstadt“. In schläfrigem Einvernehmen herrscht Stille. Doch kaum surrt der Motor des Rolltors, schiebt die Hinterste den Vordersten auch schon zur Glastür der Praxis. Viereinhalb Stunden lang wird die Tür an diesem Vormittag geöffnet sein – und als der letzte Patient hindurchgeht, wird der Chef des Hauses nicht ein einziges Mal in sein Butterbrot gebissen haben.
„Dabei ist heute ein ruhiger Montag“, sagt Hausarzt Lars Rettstadt und lächelt vergnügt. Automatisiert sprüht er Desinfektionsmittel auf das Stethoskop um seinen Hals und ruft seinen Mitarbeiterinnen im Weggehen zu: „Ich bin in der fünf, dann in der acht und elf.“
Über 1000 Hausarztsitze unbesetzt: Auch Großstädte steuern auf drohende Unterversorgung zu
Von Menschen wie Lars Rettstadt gibt es derzeit zu wenige. Denn die Hausärztinnen und Hausärzte stehen vor einer großen Verrentungswelle. Das Problem: Sie finden keine Nachfolger, immer weniger junge Medizinerinnen und Mediziner wollen in die Fußstapfen der Alten treten und sich als Hausarzt selbstständig machen.
Landesweit waren unlängst knapp 1000 Hausarztsitze unbesetzt – steigt die Zahl weiter, droht selbst in den aktuell noch gut ausgestatteten Großstädten des Ruhrgebiets eine Unterversorgung.
Dabei merken Patienten auch dort bereits, dass die Hausärzte überlastet sind: besetzte Telefonleitungen, Termine erst in zwei Monaten, das Anstehen vor den Praxen, all das sind Anzeichen, dass die Praxen an ihre Kapazitätsgrenze gekommen sind. Rettstadt und sein Team reagieren auf die stetige Mehrbelastung mit einer Effizienz getriebenen Choreografie des wortlosen Ineinandergreifens – und mit Teamgeist.
Technikprobleme: Der Drucker läuft trotz elektronischer Rezepte
Der Weg in die Praxis von Rettstadt und seiner angestellten Kollegin Katharina Bosel führt zu einem großen hellen Raum, der Patientenannahme und Schaltzentrale zugleich ist. Hinter einem wuchtigen weißen Empfangstresen sitzen Angela Pallak und Gudrun Ebersbach in roten Poloshirts. Früher hätte man die beiden unbedarft als Arzthelferin oder Sprechstundenhilfe bezeichnet, beides ist falsch: Da sitzen 40 Jahre Berufserfahrung als Medizinische Fachangestellte, eine Praxismanagerin, eine Versorgungsassistentin, Frauen also, die organisieren und bei der Behandlung helfen können.
An diesem Morgen nehmen sie mal scherzend, mal ermahnend Patienten auf, arbeiten sich im Wechsel durch Patientenchats in der Praxis-App, Rezeptbestellungen, Dutzende Mails und Abrechnungskontrollen. Der Drucker neben ihnen springt ständig an: Seit sieben Tagen ist die Praxis teilweise von der Telematikinfrastruktur abgeschnitten. Übersetzt heißt das: Rezepte gibt es nur auf Papier.
Für akut erkrankte Patienten ohne Termin haben Rettstadt und seine Kollegin Bosel genau fünf Minuten Zeit, nachdem die Fachangestellten die Voruntersuchung gemacht haben. Mehr geht nicht. Rettstadt spricht, hört zu, dann ab und erklärt. Man hat nie den Eindruck, dass er in Eile ist, und doch ist keine Bewegung und kein Satz verschwendet. Das gilt auch für die kleinen Behandlungsräume, in denen jeder Zentimeter genau auf Arzt, Patient und Fachangestellte ausgerichtet. Eine zusätzliche Person findet nur hinter der Tür eine Nische.
Trotzdem reicht der Platz in der Praxis kaum aus: Das Wartezimmer ist nie leer, auch die drei Räume des Labors werden mitbenutzt. Täglich 100 bis 150 Menschen versorge die Praxis, sagt Rettstadt in einer ruhigen Minute, manchmal seien es bis zu 350 Menschen – darunter auch Suchtkranke, die Methadon erhalten. Den ersten Hausbesuch hat der 55-Jährige um 7 Uhr gemacht, manche Tage enden nach der Büroarbeit um 20 Uhr. „Ich bin old school“, sagt er, „mir machen diese Arbeitstage nichts aus. Aber ich weiß, dass junge Hausärzte andere Prioritäten setzen und darauf müssen wir eine Antwort finden.“
Warum bei diesem Stress Hausarzt werden? Es geht um Vertrauen und eine bessere Medizin
Rettstadt ist die Medizin nicht in die berühmte Wiege gelegt worden. Sein Vater fuhr Bagger, er selbst kam durch den Zivildienstins Gesundheitswesen. Er wurde Hausarzt und Überzeugungstäter: Der Dortmunder ist seit 2023 Vorsitzender des Hausärzteverbands Westfalen-Lippe – und mit dem Einblick in seinen Praxisalltag will er für seinen Beruf werben.
Er schätze sehr, dass er Patienten und Familien über einen oft langen Zeitraum behandeln könne, sagt er. Und er sei überzeugt davon, dass aus diesem Vertrauen bessere Medizin entstehe. Das kann man in der Praxis erleben, wenn Rettstadt ausführlich die Geschichte des Herzinfarkt-Patienten herleiten kann, der vor ihm im Ultraschallraum liegt, mal bei Hoesch Schweißer war und heute die Hälfte des Jahres wieder in der Türkei lebt.
30 Prozent mehr Lohn: Praxen fehlt das nötige Geld
Möglich ist solch ein Praxisbetrieb auch, weil die Angestellten in weiten Teilen eigenständig arbeiten. Luisa-Marie Faust ist so ein Beispiel. Die junge Fachangestellte mit der großen Brille kümmert sich um die Blutentnahmen und vergibt Termine selbst. „Das ist nicht überall so, dass man ein eigenes Arbeitsfeld selbstständig organisieren kann“, sagt Faust. Sie studiert nebenbei, finanziert durch die Praxis. Auch die anderen Angestellten haben Fort- und Weiterbildungen gemacht.
Das Lohnplus, das Rettstadt für wichtig hält im Wettkampf um gute Köpfe, muss er selbst schultern. 2023 seien Lohnkosten um 30 Prozent gestiegen. „Ich habe kein Haus auf Malle, mir geht es aber auch nicht schlecht. Aber das gesamte System leidet an einer Unterfinanzierung“, sagt er.
Ungewöhnliche Unterstützung: Eine Bürokauffrau nimmt Telefonate entgegen
Zu dem achtköpfigen Team gehört auch jemand, den es vor wenigen Jahren in einer Praxis nicht gegeben hätte. Durch eine Tür mit der Aufschrift „Privat“ geht es zu Heike Riebow. Die 61-Jährige mit sanfter Stimme und eleganter Haltung ist Bürokauffrau. Dass Menschen mit ihrem Beruf heute in Hausarztpraxen arbeiten, ist auch Folge der stetig zunehmenden Bürokratie.
Bei Riebow landen alle Anrufer, was der Praxis selbst viel Hektik nimmt. Riebow sortiert die Faxe – ja, Faxe im Jahr 2024 – und setzt Befunde und Untersuchungsberichte auf die immer länger werdende To-Do-Liste der beiden Mediziner der Praxis. Der Einsatz der Dortmunderin ist gefragt: „Ich habe mich im Dezember 2021 hier beworben, am 17. Januar 2022 hatte ich den Job.“
Wasserball und Vespas als Ausgleich: „Ich bin old school“
Um 12 Uhr sollte die Sprechstunde zu Ende sein. Im Wartezimmer sitzen noch immer sieben Leute. In seinem Büro schiebt Lars Rettstadt die ungeöffnete BVB-Brotdose zur Seite. Was er zum Ausgleich mache? Der Vater von vier erwachsenen Kindern erzählt von der Sporttasche in seinem Kofferraum, gesteht dann aber, zuletzt vor drei Monaten beim Wasserballtraining gewesen zu sein.
Etwas mehr verrät die Kommode neben der Tür: Darauf stauen sich verschiedenste Miniatur-Vespas, die größeren stehen zu Hause in der Garage. Die Leidenschaft hat Rettstadt schon, seit sein Opa ihn mit dem Roller vom Kindergarten abgeholt hat. Zu seinen Schätzen gehört eine Vespa mit Beiwagen – und Platz für einen Getränkekasten für den Feierabend.
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