Ruhrgebiet. Philipp Rhein hat untersucht, wie AfD-Wähler denken. Überraschend: Die entscheidende Klammer ist nicht Fremdenhass.

Wie sehen AfD-Anhänger die Welt? Diese Frage ist der Kasseler Soziologe Dr. Philipp Rhein mit Hilfe von Interviews mit Sympathisanten der Partei nachgegangen. Was viele seiner Gesprächspartner eint: Sie sehen die Welt am Abgrund.

Sie haben die Weltsicht von AfD-Anhängern untersucht. Welche Gemeinsamkeiten haben Sie gefunden?

Philipp Rhein: Mich haben die ganz normalen Wähler und Wählerinnen interessiert und nicht die geschulten Parteikader. Es war schwierig, an diese „unsichtbare Klientel“ heranzukommen. Gemeinsam war allen, dass sie die Gegenwart als Katastrophe verstehen und als nicht demokratisch reformierbar. Sie erleben sich selbst als Opfer gesellschaftlicher Spaltungen. Weil sie diejenigen seien, die angeblich den Finger in die Wunde legen und die Zeichen der Zeit erkannt hätten.

Sie grenzen sich ab, verstehen sich als Elite gegenüber einer blinden und naiven, gelegentlich auch verdächtigen Mehrheit. Man kann aus ihrer Sicht den Sturz in den Abgrund nicht mehr aufhalten, aber man kann sich elitär sammeln. Nicht so sehr unter dem Begriff des Volkes, sondern eher als Zeugen einer Krise. Deshalb bezeichne ich die Gemeinsamkeit in ihrer Weltanschauung als Apokalyptik. In diesem endzeitlichen Weltbild verabschiedet man sich auch leicht vom demokratischen Grundkonsens.

Dr. Philipp Rhein von der Uni Kassel hat die Weltbilder von AfD-Anhängern untersucht.
Dr. Philipp Rhein von der Uni Kassel hat die Weltbilder von AfD-Anhängern untersucht. © Rhein | Ale Zea

Wer sich zur AfD bekennt, muss damit rechnen, soziale Kontakte zu verlieren. Wie blicken die Betroffenen darauf?

Zum Beispiel empfinden sie Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, wenn sie ihre politischen Überzeugungen aussprechen. Die vermeintliche Erfahrung von Ausgrenzung, die bis über den Familientisch geht, bestärkt sie aber genau in diesem missionarischen Sinne. Aus ihrer Sicht sind es Zeichen des Auserwähltseins, wenn man angegangen wird.

Wie Diskussionen mit AfD-Anhängern empfunden werden, lesen Sie hier

Sehen es die AfD-Anhänger dann so, dass sie staatsbürgerliche Verantwortung übernehmen, wenn sie trotzdem ihre Stimme erheben?

Sie haben dabei kein demokratisches Gemeinwesen im Sinn, keine plurale Gesellschaft. Sie haben ein elitäres, auch libertär-autoritäres Gemeinschaftsverständnis. Damit ist gemeint, dass sie ihre individuellen Freiheiten und Selbstverwirklichungen in den Vordergrund stellen, ihre konservativen Werte aggressiv einfordern und keine anderen Werte daneben gelten lassen. Es ist eine Absage an den Gesellschaftsvertrag, eine Absage an das demokratische Gemeinwesen.

Unser Schwerpunkt zum „Kampf um die Demokratie“

Was unterscheidet Protestwähler von ideologisch überzeugten Anhängern?

Ich finde den Begriff verharmlosend. Es mag etwas dran sein, dass es für viele ein Protest ist, aber die Qualität ist brisant. Gegen was wird denn da protestiert? Ein Kreuz für die AfD ist eine verflachte Artikulation von: Mir passt es nicht, wie in einer pluralistischen Demokratie Konsens gefunden wird. Wie in einer Koalition, die sich erstmals aus drei Parteien zusammensetzt, die Konsensfindung schwieriger wird. Es wäre einfacher, wenn eine Partei durchregieren würde. Es heißt: Mir passt es nicht, dass viele unterschiedliche Gruppen unterschiedliche Interessen in dieser Welt haben.

Gibt es soziale oder biografische Punkte, die dazu führen, dass Menschen sich eher der AfD zuwenden?

Man darf es nicht zu sehr psychologisieren. Über ganz unterschiedliche Lebenserfahrungen und Statusgruppen hinweg dominiert die Vorstellung: Früher hatte man noch eine Zukunft. Jetzt ist die Normalität nicht mehr normal. Die Zukunft ist verschlossen. Das kann jemand sein, der ein konservatives Leben als Kopf einer Kleinfamilie auf der Schwäbischen Alb hatte. Als er vor 50 Jahren im Spiegel liest: „Mein Bauch gehört mir“, hat er in diesem Moment wirklich realisiert, dass seine patriarchale Welt zusammenbricht? Er deutet es zumindest rückwirkend so um. Er sucht überall in der jüngeren Geschichte nach Zeichen, wo die Welt unnormal geworden ist.

Eine andere Interviewpartnerin kommt aus links-politisiertem Elternhaus, war in der Friedensbewegung aktiv. Sie hat sich dann entschieden, nicht mehr arbeiten zu gehen und sich nur um ihren Sohn zu kümmern, der auf eine Sonderschule ging. Nun kritisiert sie, dass man für solche Lebensmodelle zu wenig machen würde in diesem Land. Sie artikuliert keinen Hass auf Ausländer, sondern stellt einfach fest, dass sie und ihr Sohn keine gute Zukunft haben werden. Aber wenn die AfD sie nicht bei ihrer Selbstverwirklichung unterstützen würde, sagt sie, würde sie auch noch radikalere Parteien wählen, die hier durchregieren würden.

Das hört sich narzisstisch an.

Ich bin kein Psychologe. Gleichwohl kann ich auch als Soziologe sagen, dass darin eine ultimative narzisstische Aufwertung drinsteckt, zu behaupten, man gehöre zu einer auserwählten Elite im Angesicht einer herbeigeredeten Endzeit. Und der Libertarismus ist auch anschlussfähig, weil er ein narzisstisches Trotzmuster rationalisiert: „Ich wurde nicht gefragt, ob ich Teil dieser Gesellschaft sein will“. Also kündigt man den Gesellschaftsvertrag einseitig auf. Meine Beispiele zeigen auch: Man will seine narzisstische Kränkung verarbeiten, die entsteht, wenn man in einer bunten Demokratie seine eigene Identität als nur eine unter vielen erfährt.

So hat Philipp Rhein gearbeitet

In stundenlangen Einzelgesprächen mit 17 AfD-Sympathisanten hat Philipp Rhein versucht, die Lebens- und den Gedankenwelt seiner Gesprächspartner zu ergründen. Die Auswahl der Gesprächspartner erfolgte nicht repräsentativ, sie stammen aber aus diversen sozialen Milieus. Die Gespräche geben einen tieferen Einblick in die Motive der AfD-Sympathisanten als viele quantitative Studien.

Mehr kann man nachlesen in: „Rechte Zeitverhältnisse. Eine soziologische Analyse von Endzeitvorstellungen im Rechtspopulismus“. Campus Verlag, 401 Seiten, 45 Euro.

Welche Rolle spielen Ausländer im Weltbild der AfD-Anhänger?

Das Thema ist so zentral wie bei keiner anderen Partei. Aber wenn man nicht aufs Angebot schaut, sondern auf die Nachfrage, würde ich sagen: Manifeste Rassisten gibt es sehr viele in dieser Partei. Aber vielleicht sind sie gar nicht die Mehrheit. In meinen Interviews hat es nicht so eine große Rolle gespielt, die Ausländer als Schuldige für alles Mögliche zu markieren. Vielleicht ist Ausländerfeindlichkeit gar nicht das zentrale Element für das Funktionieren dieser Partei. Es verstellt den Blick auf die besprochenen tiefergehenden Erklärungen, wenn man sich darauf beschränkt zu sagen: Das sind alle Rassisten.

Sind Abschiebefantasien unter dem Stichwort „Remigration“ weit verbreitet?

Diese Vokabel markiert aktuell eine neue Eskalationsstufe, so dass ich nicht viel dazu sagen kann. Aber man kann sich fragen: Wie viele von diesen Unappetitlichkeiten und Eskalationen machen die Anhänger mit? Wenn nun zwei neue Parteien mit dem Bündnis Sarah Wagenknecht und womöglich mit der Wertunion von Hans-Georg Maaßen einsteigen, erwarte ich größere Verschiebungen. Möglicherweise wandelt sich die AfD dann zu einer knallhart faschistischen Partei, weil das die letzten sind, die dort übrig bleiben.

Eine Idee, wie man die Anhänger erreichen kann?

Die Frage unserer Zeit wird sein: Was müssten wir dafür tun, dass diese Menschen erleben, dass die bessere Welt eine des Gemeinwesens ist – und nicht eine, in der man den Gesellschaftsvertrag durch individuelle Verträge ersetzt? Wie kriegt man Gesellschaft so hin, dass jeder das Gefühl hat: Hier springt eine bessere Zukunft dabei heraus?