Essen. Ermordet oder davongekommen? Das Beispiel von Dore Jacobs zeigt, welche wichtigen Impulse von Überlebenden des Nazi-Regimes ausgingen.
Dies ist die Geschichte von einer, die überlebt hat. Die durch die Reichspogromnacht am 9. November 1938 nicht so verängstigt wurde, dass sie ins Exil ging. Die in einer „privilegierten Mischehe“ lebte und so den Deportationen entging. Die nur knapp mit dem Leben davonkam, als ihre Wohnung bei einem Alliiertenangriff einen Volltreffer kassierte. Die heute kein eingemeißelter Name auf einem Stolperstein ist, sondern einen ordentlichen Grabstein bekam, auf einem Friedhof in Essen. Dore Jacobs, 27.6.1894 – 5.3.1979.
„Mit Jüdchen, Jüdchen geh ich nicht.“
Eine Jüdin, die trotz der unvorstellbaren Gräueltaten der Nationalsozialisten, gewillt war, nach 1945 in Deutschland zu bleiben. Dore Jacobs, Tochter einer leidenschaftlichen Frauenrechtlerin aus Vreden und eines Amtsrichters aus Kamen, der Immanuel Kant verehrte, spürte schon im Kaiserreich den Antisemitismus hautnah. „Auf jedem Schulweg wurden uns Spottverse auf die Juden nachgerufen oder gesungen: „Mit Jüdchen, Jüdchen geh ich nicht.‘ Sie galten nur mir mit meinen braunen Locken“, schrieb sie in ihren Erinnerungen. Dores Schwester Evchen mit ihrem blonden Haar blieb dagegen unbehelligt.
Auf dem Realgymnasium litt Dore besonders unter ihrem judenfeindlichen Englischlehrer, aber sie liebte die Musik, die Denkspiele in der Mathematik und „den genialen Geschichtsunterricht“. Entscheidend beeinflusst wurde sie durch den privaten Unterricht in Musik-Rhythmik, für den ihr Vater einen Lehrer aus Wuppertal engagiert hatte. „Wir lernten, systematisch die Musik in körperliche Bewegung zu übertragen.“
„Sich bewegen lernen, heißt leben lernen.“
Dore Jacobs hatte ihre Lebensaufgabe gefunden: Eine neue Art der Bewegung zu vermitteln, in der Körper, Seele und Geist einheitlich zusammenwirken. „Sich bewegen lernen, heißt leben lernen“, war sie überzeugt. Nach ihrem Studium und dem Ersten Weltkrieg gründete sie 1925 in Essen die „Bundesschule für Körperbildung und rhythmische Erziehung“, an der Gymnastiklehrerinnen und -lehrer ausgebildet wurden. 1934 zwangsgeschlossen, schaffte die Schule im Oktober 1945 den Neuanfang. Und Dore Jacobs mit ihr.
Noch 1938 hatte sie an eine Frau in der Emigration geschrieben: „Die Unsicherheit des Tages drückt, und mehr noch die Zukunft. Sie ist furchtbar. Und was auch drückt, ist das Gefühl der Ohnmacht. Man sieht etwas kommen, und man kann es nicht abwehren.“ Die Reichspogromnacht 1938 war eine Zäsur, nicht nur für Dore Jacobs, sondern auch für ihren Mann Artur, einen Pädagogen und Schulreformer, der schon lange Gleichgesinnte im „Bund – Orden für sozialistische Politik und Lebensgestaltung“ um sich versammelt hatte.
Päckchen wurden in die Lager geschmuggelt
Die Gruppe, die sich die ganzheitliche Bildung des Menschen auf die Fahnen geschrieben hatte, startete nun verborgene, höchst gefährliche Hilfsaktionen. Verfolgte Jüdinnen und Juden wurden versteckt, manchen verhalf man zur Flucht ins Ausland. Deportierten wurden Päckchen in die Lager geschmuggelt. Die Gestapo bekam den „Bund“ nicht zu fassen, weil er keine formale Vereinsstruktur hatte. Acht verfolgte Menschen überlebten durch die illegale Widerstandsarbeit.
So auch Dore Jacobs‘ jüdische Schülerin Lisa Jacob, die nach 1945 die Bewegungsschule leitete. An Dore Jacobs erinnern sich manche als eine kleine, zähe, von innerem Auftrag erfüllte Frau, klug, eindringlich, humorvoll. Wie sie da saß in gewebtem Rock, Strickweste und alten Hüttenschuhen. Die Schülerinnen lächelten darüber, es war die Zeit der Pumps und sie schminkten sich. Karin Gerhard war damals Schülerin, sie erinnert sich: „Wir lernten einen interessanten Beruf und konnten gleichzeitig in unserer Person wachsen und reifen. Bewegungsbildung sollte auch Menschenbildung sein.“
1962 veröffentlichte Dore Jacobs ihr Hauptwerk („Die menschliche Bewegung“), in dem sie beklagte, dass den Menschen die natürliche Beziehung zum eigenen Körper, wie sie Kleinkinder haben, abhandengekommen sei. Da war sie bereits 68, Kraft und Energie waren merklich geschwunden. Trotzdem sollte sie noch 84 Jahre alt werden. Der Historiker Mark Roseman, der unter anderem eine Biographie über die Essener Jüdin Marianne Strauß verfasst hat, bemängelte viele Jahre nach Dore Jacobs‘ Tod: „Es ist überraschend, dass sie in ihrer Heimatstadt Essen nicht besser bekannt ist. Denn über sie kann wahrlich gesagt werden: Diese Frau hat viel in Bewegung gebracht.“
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Lisa Jacob, die während des Nazi-Regimes drei Jahre unter schwierigsten Bedingungen im Untergrund gelebt hatte, führte die Schule mit vielseitigen Impulsen bis 1970, dann übernahm Karin Gerhard die Leitung. Sie sagt heute: „Alles, was wir in der Schule weiterentwickelt haben, ist immer aus der Verantwortung für die fachlichen und geistigen Hintergründe und Erkenntnisse von Dore Jacobs geschehen. Um diese Verbindung zur Gründerin zu verdeutlichen, haben wir die Schule 1986 umbenannt in ,Dore-Jacobs-Schule‘.“
Schüler lernen, Verantwortung zu übernehmen
Was ist von ihrem Geist und ihren Überzeugungen am heutigen Dore Jacobs Berufskolleg im Essener Stadtteil Altenessen geblieben? Der Lehrer Kai Arno Mittag sagt: „Wir Lehrerinnen und Lehrer arbeiten mit und an den Interessen und dem individuellen Ausdruck unserer Schülerinnen und Schüler. Wir möchten Ihre Kreativität fördern, so dass sie ihren eigenen Ausdruck finden. Es ist uns sehr wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, für ihr eigenes Leben Verantwortung zu übernehmen. Dabei haben wir, so wie Dore Jacobs auch, die Herausforderungen der Gegenwart im Blick und was im Leben der Schülerinnen und Schüler aktuell wichtig ist. ,Schule geht auch anders!‘ ist das jetzige Motto des DJBK.“
Dieses Motto passe zu dem Satz von Dore Jacobs: ,,Sich bewegen lernen, heißt leben lernen.‘‘ Kai Arno Mittag sagt: „Ihr war es wichtig und dies ist es uns auch heute, dass der Mensch einen neuen Zugang zu sich und seinem Leben im Ganzen finden soll. Im Bezug auf unseren Bewegungsunterricht bedeutet dies: Die Schülerinnen und Schüler erfahren über eine bewusste Auseinandersetzung mit ihrem Körper, dass sie intensiver und freudiger leben können.“
Das Stammhaus der früheren Dore-Jacobs-Schule ist noch immer denkmalgeschützt in Essener Stadtteil Stadtwald erhalten. Das historische Holzhaus wird auch heute noch regelmäßig von der Schule genutzt, deren Schülerinnen und Schüler ansonsten längst in einem modernen Neubau im Essener Norden unterrichtet werden. Darüber hinaus finden vielfältige Kurse in dem Haus statt. Auch zum Tag des offenen Denkmals ist es geöffnet.
Letztlich ist Dore Jacobs‘ Lebenswerk ein Beispiel dafür, welch großen Unterschied es für die Bundesrepublik gemacht hat, ob Jüdinnen und Juden überlebt haben oder ob sie ermordet wurden. Wer nach 1945 noch am Leben und trotz der schrecklichen Geschehnisse gewillt war, in Deutschland zu bleiben, hat beigetragen zum Wiederaufbau, Impulse gesetzt und oftmals – wie Dore Jacobs und Lisa Jacob – vielen Menschen einen guten Weg ins Leben geebnet.