Essen. Ruth-Anne Damm gibt als Zweitzeugin die Geschichte des inzwischen verstorbenen Rolf Abrahamsohn weiter. Er überlebte sieben KZs.
Ruth-Anne Damm sitzt am langen Esstisch ihres Wohnzimmers. Sie trägt schwarz. „Wenn ich die Geschichte von Rolf Abrahamsohn erzähle, beginne ich gerne damit: Rolf ist mir ein richtig guter Freund geworden.“
Ein Freund, der sieben Konzentrations- und Arbeitslager überlebte. Ein Freund, von dem die Vorsitzende und Mitgründerin des Essener Vereins Zweitzeugen immer wieder stellvertretend erzählt, hier anlässlich des internationalen Gedenktags der Opfer des Holocausts.
Rolf Abrahamsohn, 1925 geboren und 2021 im Alter von 96 Jahren verstorben, sei ein Mensch gewesen, „der viel für andere geleistet hat, aber zeitgleich unglaublich gezeichnet war durch seine Geschichte“.
Vor ihr liegen Fotos. „Als wir 2012 zum ersten Mal telefoniert haben, war ich unfassbar aufgeregt“, erinnert sich die 35-Jährige. „Aber er war so entwaffnend, so großartig. Vor allem unglaublich witzig. Das habe ich immer sehr an ihm geschätzt und alles andere als selbstverständlich gefunden.“
Rolf Abrahamsohns Eltern besaßen ein Textilgeschäft in Marl, über dem die jüdische Familie wohnte. Sie sei hoch angesehen und gut in der Stadt vernetzt gewesen. „Rolf sagte, dass er eine glückliche Kindheit hatte und ohne einen großen Unterschied zwischen Juden und Christen aufgewachsen ist. Er ging auf eine evangelische Schule.“
Novemberprogrome 1938 in Marl
Der kleine Rolf – Spitzname Würstchen – sei ein „cooler Typ“ gewesen. „Ein ganz normaler Junge.“ Die Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden habe schleichend begonnen und habe ihn schwer getroffen. „Dass Kinder nicht mehr mit ihm gespielt haben, dass er bespuckt und beschimpft wurde – das hat er nie verstanden und das hat ihn sehr verletzt.“
Nach der Wahl der Nationalsozialisten 1933 dachte die Familie immer wieder an eine Flucht, wollte aber bleiben. Bis zur Pogromnacht 1938, in der das Kaufhaus angezündet wurde. „Als es an der Tür polterte, dachte Rolfs Vater, dass es die Feuerwehr sei.“ Stattdessen drangen SA-Männer ein und schlugen ihn fast tot. „Rolf war da gerade 13 Jahre alt.“
Die Familie kam vorübergehend ins Gefängnis, in ihrem Kaufhaus wurde ein NSDAP-Büro eingerichtet. „Ich habe noch immer vor Augen, wie Rolf sagte: Aber Frau Damm – mein Bruder Norbert war doch fünf Jahre alt. Sagen Sie mir, was hat ein fünfjähriges Kind getan, dass es in einem Gefängnis sein muss?“
Während der Vater und der älteste Bruder es noch über die Grenze nach Belgien und die Niederlande schafften, gelang Rolf Abrahamsohn, seiner Mutter und seinem kleinen Bruder die Flucht nicht mehr. Der Jüngste, Norbert Abrahamsohn, verstarb noch vor der Deportation an Diphterie, weil er als Jude nicht mehr behandelt wurde.
„Bis zu seinem Tod hat Rolf regelmäßig sein Grab besucht“, so die Zweitzeugin. „Das war ein ganz wichtiger Ort für ihn, da sein kleiner Bruder der Einzige war, der ein Grab hatte. Niemand aus der Familie hat überlebt.“
Befreiung im KZ Theresienstadt
Mit seiner Mutter wurde Rolf Abrahamsohn 1942 über Dortmund nach Riga verschleppt, wo es bitterlich kalt gewesen sei. „Von dem, was in den Lagern passiert ist, weiß ich nur Bruchteile“, so Damm. Eine Erinnerung, die Rolf Abrahamsohn aber mit ihr teilte: Den Tag, an dem er bei einem Arbeitsauftrag Brote in einem Keller fand. „Solche Laibe Brote, hat er gesagt, mit einem Strahlen in den Augen.“
Trotz Warnungen der anderen Häftlinge wollte er seiner Mutter etwas mitbringen. „Nichts auf der Welt, so sagte er, war ihm jemals so viel wert gewesen wie dieses Stück.“ Er schaffte es. Else Abrahamsohn wurde nach einem Arbeitseinsatz, bei dem sie ihre Hände verätzte, ermordet.
Ein Leben nach der Befreiung aufbauen
Nach Verlegungen in verschiedene Lager wurde Rolf Abrahamsohn in Theresienstadt befreit. „Rolf sagte mir: Ich wusste bei der Befreiung nicht mehr, wie ich heiße.“ In der Hoffnung, dass Vater und Burder überlebt hatten, ging er nach Marl zurück. „Es war sehr bitter für ihn, herauszufinden, dass das nicht so war.“ Arthur und Hans Abrahamsohn wurden in Auschwitz vergast.
Trotzdem blieb Rolf Abrhamsohn. Heiratete, bekam einen Sohn, baute sich eine neue Existenz mit einer Jeansfabrik auf. Die Erinnerungen blieben ebenfalls. „Es haben ihn regelmäßig Albträume geplagt. Wenn er nicht schlafen konnte, hat er Teppiche geknüpft“, erzählt Ruth-Anne Damm. Schöne Teppiche. „Als ich in seiner Wohnung gesehen habe, dass alles vollhängt, hat es mir den Boden unter den Füßen weggezogen.“
Dass in Schule und Öffentlichkeit wenig über die Zeit vor 1933 und nach 1945 gesprochen werde, kritisiert die Zweitzeugin. „Rolf hat viel über Antisemitismus nach dem Krieg erzählt. Er ist nicht mit offenen Armen empfangen worden. Er hat gehört, dass über ihn gesagt wurde: Den haben sie wohl vergessen zu vergasen.“
Bis zu seinem Tod lebte Rolf Abrahamsohn in Marl, in der Wohnung über dem ehemaligen Kaufhaus seiner Eltern. Lange habe er nicht gesprochen, doch dann „seine Stimme gefunden“: als Zeitzeuge in Schulen, beim Einsatz für jüdisches Leben in Deutschland nach dem Krieg.
Wichtig sei ihm immer gewesen, zu vermitteln, dass Jüdinnen und Juden „nicht schlechter“ seien als andere Menschen. Ruth-Anne Damm trägt das als Zweitzeugin für ihn weiter. Das Bundesverdienstkreuz am Bande erhielt Rolf Abrahamsohn 1992. „Dazu hat er immer gesagt: Das ist nett. Aber ich brauche keine Auszeichnungen. Ich mache das für die Toten.“