Kabul/Oberhausen. 74 Kinder aus Afghanistan landen mit Mitarbeitern des Friedensdorfes in Düsseldorf, um gesund zu werden. Es gibt auch Tränen des Glücks.
Es ist kurz nach sieben, die Sonne ist vor einer halben Stunde über den Bergen Kabuls aufgegangen. Auf dem Gelände des Roten Halbmondes im Westen der afghanischen Hauptstadt stehen drei kleine Busse, umgeben von Männern und Frauen. Manche weinen, manche sind erleichtert. In den Bussen sitzen ihre Kinder, und die Kleinen brechen an diesem Morgen zu einer Reise in ein Land auf, das über 7000 Kilometer entfernt ist. Die Eltern wissen, dass sie ihre Kinder für viele Monate nicht mehr sehen werden, der Trennungsschmerz tut weh.
Sie wissen aber auch, dass ihre Kinder in Deutschland in Krankenhäusern behandelt werden sollen, die viel besser sind als die in Afghanistan. Für viele ist es die letzte Chance. Gegen 7.30 Uhr fahren die Busse los und mit ihnen die Mitarbeiter des Friedensdorfs International, für die es der neunzigste Einsatz im Land am Hindukusch ist.
In einem der Busse sitzt Bibi. Das siebenjährige Mädchen ist abgemagert, seine Augen wirken in dem schmalen Gesicht übergroß. Das rechte Bein steht grotesk vom Körper ab. Bibi leidet an einer schweren Knochenentzündung, die schon seit Jahren ihr Leben zur Hölle macht. Sie hat zahlreiche Operationen über sich ergehen lassen müssen, der Schmerz ist ein täglicher Begleiter.
Im Oktober hat Bibi mit ihrer Großmutter im Büro des Friedensdorfes in Oberhausen gesessen, sie hat geweint, als ihr der verschmutzte und verklebte Verband gewechselt wurde. Als die deutschen Helfer das Mädchen sehen, ist ihnen sofort klar: Bibi muss mit zur Behandlung nach Deutschland. Ohne Therapie hat sie kaum eine Chance, ihre Erkrankung zu überleben.
Der Vater verdient zwei Euro am Tag
Bibi stammt aus der Provinz Kandahar im Südwesten Afghanistans. Sie lebt dort mit ihren Eltern, den zwei Schwestern und vier Brüdern in einer kleinen Wohnung in der Provinzhauptstadt. Ihr Vater ist Taxifahrer, er verdient umgerechnet zwei Euro am Tag. Alle Ersparnisse der Familie sind für Bibis Operationen draufgegangen. In einem Land, in dem es keine Krankenversicherung gibt, können schwere Erkrankungen Familien ruinieren. Allein ein Röntgenbild kostet umgerechnet sechs Euro.
„Wir haben seit Monaten kein Fleisch mehr gegessen, wir können uns nicht einmal richtiges Brot leisten. Wir ernähren uns von Maisbrei“, erzählt Großmutter Parigul. Sie hat sich mit der Enkelin zum zweiten Mal auf den Weg nach Kabul gemacht, die Mutter muss sich um Bibis Geschwister kümmern. „Wir sind sehr glücklich, dass Bibi in Deutschland behandelt wird“, sagt die 50-Jährige. Den Kontakt zum Friedensdorf hat die Familie über den Roten Halbmond bekommen, die Partnerorganisation des Friedensdorfes. Jedes Mal, wenn die deutschen Helfer kommen, wird das über das Radio, das Fernsehen und die sozialen Medien bekanntgegeben.
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Bei diesem Einsatz nimmt das Friedensdorf 74 Kinder mit zur Behandlung nach Deutschland. Die meisten leiden wie Bibi unter Knochenentzündungen, andere haben Narbenverwachsungen nach Schusswunden oder Verbrennungen, wieder andere haben urologische Probleme. In den vergangenen Jahren ist es für die Helfer schwieriger geworden, kostenlose Behandlungsplätze in deutschen Krankenhäusern zu bekommen. „Die Kliniken in Deutschland stehen ja selbst zunehmend unter wirtschaftlichem Druck“, erklärt Claudia Peppmüller, die Sprecherin des Friedensdorfes, die bei diesem Einsatz dabei ist.
Deswegen versucht die Hilfsorganisation jetzt einfachere Erkrankungen in privaten afghanischen Krankenhäusern behandeln zu lassen, die einen bessern Standard als die staatlichen haben, für die meisten Afghanen aber unerschwinglich teuer sind.
Menschen verfeuern auch Plastik, um zu kochen
Die Busse mit den Kindern fahren durch die afghanische Hauptstadt, über der schon Morgen eine Dunstglocke hängt. Die Nächte sind kühl geworden, es beginnt wieder die Jahreszeit, in der die Menschen Holz, Kohle oder Plastik verfeuern, um zu heizen oder zu kochen. Die Taliban an den Checkpoints wirken noch müde und winken die Busse durch, genauso wie die wenigen klapprigen Autos, aus deren Auspuffrohren schwarze Abgase qualmen. Gegen 8 Uhr ist der Flughafen erreicht.
Am Abend zuvor ist um kurz vor sechs Uhr deutscher Zeit eine Chartermaschine am Flughafen in Düsseldorf gestartet. An Bord sind rund hundert Kinder aus Afghanistan. Tadschikistan und Usbekistan und fünf Mitarbeiter des Friedensdorfes.
Die Kinder kehren zurück in ihre Heimat
Die Kinder kehren nach ihrer Behandlung in ihre Heimatländer zurück. In Duschanbe und Taschkent steigen die tadschikischen und usbekischen Kinder aus, neue werden mitgenommen. Gegen 10 Uhr Ortszeit landet die Maschine in Kabul. Die afghanischen Kinder sind aufgeregt. Es ist für die meisten von ihnen der erste Flug. Die Busse fahren auf das Vorfeld.
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Aus dem Flugzeug steigen die Kinder aus, die in den vergangenen Monaten in Deutschland waren, dann gehen Bibi und die anderen an Bord. Bibi wird den Flug auf einer speziellen Matratze verbringen, damit ihre Schmerzen gemildert werden. Sie lächelt zum Abschied. Mit nach Deutschland fliegen auch Einsatzleiterin Birgit Hellmuth und der Arzt Ralf Steinen-Perschke, die in den Tagen zuvor die Reise der Kinder in Kabul mitvorbereitet haben.
Unter den Kindern, die in Kabul angekommen sind, ist auch Wahidullah Rahimi. Er ist elf Jahre alt und hatte Narbenkontrakturen an beiden Händen. Wahidullah hat acht Monate im Friedensdorf verbracht. Seine linke Hand ist operiert worden. Kurze Zeit nach seiner Ankunft sitzt er zusammen mit den anderen Rückkehrern in einem großen Saal auf dem Gelände des Roten Halbmonds, der voller Verwandter der Kinder ist. Auch diesmal fließen Tränen. Es sind Tränen des Glücks.
Wahidullah möchte „Doktor werden“
Wahidullah wird von seiner Mutter Aziza und seinem Bruder Abdullah erwartet, die aus der Provinz Wardak südlich von Kabul angereist sind. „Es war sehr schwer, mein Kind ins Ausland zu schicken“, erzählt die Mutter. „Aber wir konnten uns die Behandlung in Afghanistan nicht leisten. Wir sind glücklich, dass er wieder bei uns ist.“ Wahidullah sagt, er habe die Zeit im Friedensdorf genossen, aber die Heimat und die Familie vermisst. „Ich werde nächste Woche wieder in die Schule gehen“, sagt er auf Deutsch. „Ich will Doktor werden.“ An diesem Abend wird aber gefeiert.
Die Chartermaschine mit Bibi und all den anderen Kindern landet gegen 18 Uhr deutscher Zeit in Deutschland. In Afghanistan ist es dann schon mitten in der Nacht.