Duisburg. Alicja Kwade will mit ihrer Kunst „die Wahrnehmung stören“. Deshalb kann der Besuch des Lehmbruck Museums in Duisburg aktuell irritieren.
Im Lehmbruck Museum gibt’s einen Geist… wirklich! Um ihn zu sehen, muss aber niemand bis zur Nacht warten, denn der bronzegrüne Umhang läuft auch am Tag auf die gläserne Front zu und lässt dabei Lehmbrucks Schreitende weit hinter sich zurück. Das „Selbstportrait als Geist“ wirkt dabei nicht wie eine gruselige Erscheinung, sondern eher wie verhüllte Ironie inmitten all der nackten Frauenfiguren. „Eine kokette Verneinung des Körperlichen“, so beschreibt es die Künstlerin Alicja Kwade selbst. Denn wie lässt sich schon der einzelne Körper, ach was, die ganze Welt darstellen? Geht das überhaupt? Und falls ja, können wir solchen Abbildungen dann auch wirklich trauen? Ja, es sind die ganz großen Fragen, mit denen sich die Berlinerin in der Ausstellung „In Agnosie“ beschäftigt.
Das ist, zugegebenermaßen, ein sperriger Titel, der eine kurze Erläuterung erfordert: Agnosie meint die „Störung der Wahrnehmung“, soll aber hier noch einen Schritt weiter gehen und zur „Idee des Verlustes der Sinneswahrnehmung“ führen, so Alicja Kwade. Das klingt nun doch etwas gruselig… Aber keine Sorge, wenn die gewohnte Wahrnehmung versagt, kann eine neue Sichtweise entstehen. Und mit einem solch philosophischen Gedanken geht’s nun in die Glashalle, wo die großformatige Arbeit „Light Touch of Totality“ versucht, mithilfe von Abakusperlen die Welt zu berechnen. Unmöglich? Vielleicht. Aber ebenso schwierig ist es doch zu sagen, wann eigentlich ein Baum aufhört ein Baum zu sein – und stattdessen zur Pfeife wird.
Das ist keine Pfeife – oder doch?
Der massive Baumstamm, in den eine dreidimensionale Pfeife geschnitzt ist, erinnert natürlich an René Magrittes „Ceci n’est pas une pipe“. Nein, sein Werk war keine Pfeife, sondern nur das Bild von einer Pfeife. Aber wie steht es nun um das holzgeschnitzte Exemplar, das sich scheinbar noch im Schnitzprozess befindet? „Was macht ein Objekt zum Objekt?“, fragt sich Alicja Kwade immer wieder, auch bei „Emergenz“. Und spätestens jetzt kommt die Irritation, die angekündigte „Idee des Verlustes der Sinneswahrnehmung“. Ein klobiger Stein verwandelt sich, von Spiegel zu Spiegel, bis am Ende eine geometrische Form übrig bleibt. Drumherum gehen, gucken und staunen, drüber nachdenken – all das ist erlaubt, sogar erwünscht.
Ein Lieblingswerk der Künstlerin aber steht draußen, ganz unscheinbar. Zwei silberne Nissans von 1997 haben alle sicher schon zig Mal auf der Straße gesehen. Aber auch hier lohnt sich das genaue Hinschauen… Die Autos ähneln sich, sehr sogar, denn selbst Kratzer und Dellen tauchen an den jeweils gleichen Stellen auf. Wie kann das sein? „Mein Freund hatte einen Unfall mit einem Bus, nix Schlimmes, das Auto hatte nur eine Delle am Kotflügel“, erzählt sie, „und ich wollte danach versuchen, das Ereignis zu doppeln.“ Also kaufte sie ein gleiches und unversehrtes Modell in Bristol, dem sie mithilfe eines 3D-Scanners und -Druckers eine identische Delle am Kotflügel verpasste. „Das war teurer als die beiden Autos zusammen“, gibt sie zu und lacht.
Nissans in zwei Parallelwelten
Von nun an musste immer jemand, wenn Alicja Kwade mit dem einen Auto unterwegs war, mit dem anderen Wagen hinterherfahren. „Das war quasi mit einer Performance verbunden“, erzählt sie. Sobald sie an einer Raststätte hielt und einen Schokoriegel aß, musste die andere Person ebenfalls dort stoppen und später die Verpackung einfach auf dem Sitz liegen lassen. Damit sind es nicht mehr nur zwei Autos vor der Glashalle, sondern zwei „Parallelwelten“, so der Titel. In einer solchen fühlen sich auch all jene, die weiter durch die Ausstellung gehen, bis zum Neubau, und plötzlich mitten im Dunkeln stehen. Wobei, nicht ganz, denn da fliegt ein Stein über die Wand – oder doch ein Asteroid? Lieber schnell weitergehen, ins Helle, wo ein monotones Brummen zwischen schwarzen Metallwänden mal lauter, mal leiser wird.
„Das ist das Hörbarmachen der elektromagnetischen Strahlen in den Leuchtstoffröhren“, sagt Alicja Kwade und zeigt nach oben auf die Lichter. Aber sie kann nicht nur Sichtbares erklingen lassen, sondern auch etwas Abstraktes bildlich darstellen. In jeweils einem großen Bilderrahmen hat sie die Anzahl der Stunden von drei Monaten festgehalten. Aber nicht irgendwie, sondern mithilfe von goldenen Uhrzeigern, die jeweils die richtige Uhrzeit anzeigen. Dagegen scheinen die Uhren, die „gegen den Lauf“ gehen und dabei dennoch die richtige Zeit anzeigen, geradezu eingängig… Für eine kleine Denkpause sonst einfach mal kurz nach oben zur Decke schauen, dort hängt eine Melone – oder „Sonne“? Humor ist ihr wichtig, sagt die Künstlerin, „denn wenn man über das eigene Dasein nachdenkt, ist doch alles nur noch zum Totlachen.“
>>> Führungen durch die Ausstellung im Lehmbruck Museum in Duisburg
Die Ausstellung „Alicja Kwade. In Agnosie“ läuft noch bis zum 25. Februar 2024 im Lehmbruck Museum. Zu sehen sind 48 Werke – von frühen Fotografien, Papierarbeiten und Videos bis hin zu raumgreifenden Installationen. Einige Skulpturen, wie „What part of me that you don’t know“ hat die Künstlerin (1979 in Kattowitz geboren) speziell für die Duisburger Ausstellung geschaffen.
Begleitend zur Ausstellung lädt das Lehmbruck Museum zu mehreren Veranstaltungen ein. Heute Nachmittag, 20. Oktober, führt Dr. Söke Dinkla um 16 Uhr durch die Ausstellung. Die Kosten liegen bei zwei Euro, zusätzlich zum regulären Eintrittspreis. Weitere Informationen: www.lehmbruckmuseum.de