Am Niederrhein. Jessica T. aus dem Kreis Wesel war funktionale Analphabetin. Doch dann kam der Wendepunkt: Sie lernte lesen und schreiben – mit 35 Jahren.
Jessica T.* ist 37 Jahre alt, kommt aus dem Kreis Wesel und hat zwei Kinder. So stellt sie sich selbst im Gespräch vor. Doch dann fügt sie noch eine Info hinzu, die sie bis vor Kurzem niemals, wirklich niemals preisgegeben hätte: „Ich kann seit zwei Jahren lesen und schreiben.“ Jessica war funktionale Analphabetin. Und sie bricht nun das Schweigen, um anderen Betroffenen zu zeigen: Ihr seid nicht allein! Tatsächlich können rund 6,2 Millionen Menschen in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben, so heißt es in der aktuellsten LEO-Studie (2018) der Universität Hamburg. Allein im Kreis Wesel sind es mehr als 50.000 Menschen. Und jeder von ihnen bringt eine eigene Geschichte mit.
Wenn Jessica von sich erzählen soll, weiß sie nicht so recht, wo sie beginnen soll. Vielleicht in der Schule, dort, wo doch die meisten das Lesen und Schreiben lernen? „Die Schulzeit war echt schrecklich für mich“, hält sie fest. Sie besuchte eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen, allerdings, so empfindet sie es, „habe ich dort keine Unterstützung bekommen.“ Und auch ihre Mutter half ihr nicht. Sie schaffte dennoch den Schulabschluss, irgendwie, und träumte von einer Ausbildung zur Hauswirtschafterin. Doch dann wurde sie mit ihrem ersten Sohn schwanger, später folgte ihr zweites Kind. Von nun an hangelte sie sich von einem Ein-Euro-Job zum nächsten.
Tricks und Ausreden
Die Besuche beim Arbeitsamt, das Unterschreiben von Verträgen… „Das war immer schwierig“, erzählt die 37-Jährige. Deshalb entwickelte sie über die Jahre verschiedene Tricks. Der Klassiker: „Ich habe meine Brille vergessen.“ So konnte sie die Dokumente mit nach Hause nehmen, um sie mit ihrem Lebensgefährten durchzugehen. Das war jedoch nicht immer so, lange Zeit hatte sie das Thema auch vor ihm verheimlicht. „Ich bin jetzt elf Jahre mit ihm zusammen, aber ich habe es ihm erst nach zwei Jahren gesagt“, sagt sie. Klar, das war eine große Überwindung, aber seine verständnisvolle Art war für sie eine echte Erleichterung: „Er hat direkt gesagt, dass er mich unterstützt.“
Das kann auch anders laufen, wie Jessica selbst erleben musste. Sie kann sich beispielsweise noch gut an eine Situation im Supermarkt erinnern, als sie jemanden fragte, was auf einer Konservendose stehe. Denn ja, manchmal sind es Alltagsmomente wie diese, in denen es Schreib- oder eben auch Lesefähigkeiten benötigt. Die Antwort „Bist du dumm, oder was? Verpiss dich!“ ließ sie beschämt zurück. Solche Reaktionen sind der Grund, weshalb sie sich nie traute, offen über das Thema zu sprechen. Selbst vor ihren Kindern verheimlichte sie, dass sie weder schreiben noch lesen konnte. Wobei, so ganz stimmt das nicht, einzelne Wörter konnte sie schon, Buchstabe für Buchstabe, zusammensetzen.
Verschiedene Alpha-Level
„Analphabetismus meint, dass jemand überhaupt nicht schreiben und lesen kann“, erklärt Sozialarbeiterin Jennifer Sniegon vom Mehrgenerationenhaus Bogen in Wesel. „Das gibt’s aber in Deutschland so gut wie gar nicht.“ Deshalb ist der Begriff „funktionaler Analphabetismus“ treffender. „Es geht dabei um die Fähigkeiten im Vergleich zu den gesellschaftlichen Anforderungen, die in Deutschland sehr hoch sind.“ Dabei lassen sich die Kompetenzen in vier „Alpha-Level“ aufteilen. Wer einzelne Buchstaben erkennt und schreiben kann, befindet sich auf dem Alpha-Level 1. Jessica dagegen war auf dem Alpha-Level 2, konnte also nur einige Wörter – ihren Namen und ihre Adresse – lesen und schreiben.
Ja, sie kam irgendwie durchs Leben, „ich habe mich durchgemogelt“, sagt Jessica, „und hatte deshalb auch Depressionen.“ Irgendwann reichte es ihr. „Ich wollte nicht mehr auf die Hilfe von anderen angewiesen sein.“ Deshalb besuchte sie einen kostenlosen Volkshochschulkurs, brach ihn allerdings schon bald ab, „weil ich mit dem Lehrer nicht klar kam“. Vor zwei Jahren startete sie einen neuen Versuch und… hielt durch! „Aller Anfang ist schwer“, gibt sie zu. „Aber mir hat es Spaß gemacht.“ Mittlerweile, sie kann es selbst kaum glauben, liest sie sogar Bücher. Ihr Favorit: „Ziemlich beste Freunde.“ Aktuell sind zwar alle Bücher noch in leichter Sprache, aber sie bleibt dran. „Ich bin selbst von mir baff“, muss sie zugeben.
Selbsthilfegruppe in Wesel
Doch im Kurs hat Jessica nicht nur lesen und schreiben gelernt, sondern noch eine ganz andere Sache: „Ich dachte immer, dass ich alleine wäre.“ Von wegen. Mit den anderen drei Teilnehmenden kann sie sich endlich über die Herausforderungen des Alltags austauschen. Das hat sie schließlich auch auf die Idee gebracht, eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Das Mehrgenerationenhaus Bogen und die Selbsthilfe-Kontaktstelle Kreis Wesel unterstützen sie bei dem Vorhaben.
„Mit Menschen in den Austausch zu kommen, die ähnliches erlebt haben oder erleben, kann eine entlastende Wirkung haben. Betroffene können eine ganz andere Art von Verständnis erfahren“, erklärt Sandra Tinnefeld von der Selbsthilfe-Kontaktstelle. Wobei schon jetzt klar ist, dass es einen langen Atem braucht, bis Betroffene zu einer Selbsthilfegruppe zusammenkommen. Es kostet Überwindung, so offen über das Thema zu sprechen. Doch es lohnt sich, das kann Jessica bestätigen: „Ich bin stolz auf mich!“
* Der Name ist der Redaktion bekannt.
>>> Selbsthilfegruppe in Wesel
Die Treffen der Selbsthilfegruppe finden jeden zweiten Mittwoch im Monat um 17 Uhr im Mehrgenerationenhaus in Wesel statt. Außerdem gibt’s für Multiplikatoren regelmäßig Sensibilisierungskurse, in denen der angemessene Umgang mit Betroffenen besprochen wird. Weitere Informationen unter 02841/900016 oder per E-Mail an selbsthilfe-wesel@paritaet-nrw.org
Das Alfa-Mobil kommt am Donnerstag, 31. August, in die Weseler Innenstadt, um über funktionalen Analphabetismus aufzuklären. Von 14 bis 18 Uhr können sich Erwachsene, die besser lesen und schreiben lernen möchten, beraten lassen. Außerdem können Interessierte bei verschiedenen Aktionen erfahren, wie es ist, nicht richtig lesen und schreiben zu können.