Wesel. Etwa 4000 volljährige Menschen in Wesel können nicht richtig lesen und schreiben. Beim Aktionstag am Rathaus wurden Hilfen angeboten.
Man sieht den Menschen nicht an, ob sie lesen und schreiben können. Deshalb überrascht auch die Zahl, die beim Aktionstag „Lesen und Schreiben eröffnet Welten“ genannt wurde: Etwa jeder zehnte Erwachsene hat große Probleme mit Zahlen und Buchstaben.
In Wesel sind dies also etwa 4000 Personen. Aber nur sechs davon belegen zurzeit den Lese-und-Schreib-Lern-Kurs für Erwachsene bei der Volkshochschule in Wesel. „Das ist natürlich eine irre Diskrepanz“, sagt auch VHS-Direktor Andreas Brinkmann, einer der Initiatoren des Aktionstages am Rathaus, zu dem zusammen mit zahlreichen Netzwerkpartnern das Mehrgenerationenhaus Wesel eingeladen hatte. Brinkmann hat noch weitere interessante Details zu den Personen, die er gerne in seinen Kursen begrüßen würde: „Interessanterweise sind unter den Analphabeten weltweit deutlich mehr Frauen als Männer – in Deutschland ist es genau andersherum, hier sind es 60 Prozent Männer.“
Verschiedene Gründe sind ausschlaggebend
Und: Ein Großteil der Analphabeten stehe in Lohn und Brot, viele könnte ihre Defizite sehr geschickt verstecken, so der VHS-Direktor, der vor allem drei Gründe nennt, die Erwachsene dazu bewegt, doch noch mal die Schulbank zu drücken, um Lesen und Schreiben zu lernen: „Meist ist es eine dieser Leidenssituationen: Entweder, mein Kind wird eingeschult, und man möchte dem Kind bei den Hausaufgaben helfen. Oder mein Partner droht mir die Trennung an, weil es sagt, wenn Du nicht lesen und schreiben lernst, sind wir getrennte Leute. Es kann aber auch der Chef sein, der sagt: Sieh zu, dass Du das lernst, sonst muss ich Dich leider rausschmeißen!“
Umso wichtiger sei die Aufklärung wie jetzt mit vielen Mitstreitern im Rahmen der Aktions-Wochen, denn: „Das ist ein sehr verkrampftes Thema, für viele ein Tabu.“
Weichen werden in der Kindheit gestellt
Drei der VHS-Kursteilnehmer waren beim Aktionstag sogar bereit offen über ihre Motivation zu sprechen, lange nach ihrer Schulzeit noch mal Lesen und Schreiben zu lernen.
Allen ist gemeinsam, dass sie als Kinder kaum oder gar nicht von den Eltern unterstützt wurden. „In der Kindheit werden die Weichen gestellt“, sagt auch Sandra Wevers, die den Kurs „Lesen und Schreiben für Erwachsene“ bei der VHS leitet.
Froh über erste Erfolge
Jesica Tepass ist durch das Arbeitsamt auf den VHS-Kurs aufmerksam geworden: „Ich konnte vorher gar nicht richtig lesen und schrieben, jetzt lese ich fast alles, was ich irgendwo sehe. Das fühlt sich sehr gut an“, berichtet die 34-Jährige.
Eine weitere Kursteilnehmerin ist Ulla Freitag, die genau am Aktionstag ihren 55. Geburtstag feierte und schon seit 14 Jahren den Lese-und-Schreib-Lern-Kurs zweimal wöchentlich besucht. Sie war in ihrem Elternhaus eines von zwölf Kindern, nach der Sonderschule kam sie erstmal jahrelang irgendwie zurecht, ohne lesen zu können.
„Ich habe mir immer alles von einer Freundin vorlesen lassen“, sagt sie und berichtet zudem von ihrer Fähigkeit, sich unheimlich gut Dinge merken zu können: „Also brauchte ich auch nie einen Einkaufszettel.“
Probleme beim Ausfüllen von Fragebögen
Auch Sylvio Binder hat die Hilfe in Anspruch genommen – und ist sehr froh darüber. Der 52-jährige Weseler hat sich vor einem halben Jahr entschieden den Kurs zu belegen, nachdem er im Krankenhaus große Probleme hatte, Fragebögen auszufüllen.
Das sei für ihn sehr unangenehm gewesen, denn: „Man hat sich auch sehr viel geschämt“, berichtet er über solche Situationen. Doch er fasste neuen Mut und entschied sich, etwas zu ändern. Mittlerweile klappt das schon besser und er hofft, bald solche und andere Fragebögen ganz selbstständig ausfüllen zu können.