An Rhein und Ruhr. Inflation und Geflüchtete sorgen für großen Andrang in den Tafeln in NRW. Die Kundenzahl hat sich in einem Jahr verdoppelt. Das sind die Folgen.
Immer mehr Menschen sind in Nordrhein-Westfalen von Armut bedroht. Diese Entwicklung zeigt sich auch bei den Tafeln, die deutlich wachsenden Zuspruch melden. „Im Februar vergangenen Jahres hatten wir in Nordrhein-Westfalen noch 350.000 Kundinnen und Kunden der Tafeln. Heute beziffern wir diese Zahl auf 600.000“, sagt Petra Jung.
Die stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes der Tafeln in NRW berichtet, dass durch die stark gestiegenen Lebensmittelpreise vermehrt Berufstätige mit geringem Einkommen Unterstützung einfordern. Der Verbraucherpreisindex lag im Jahr 2022 laut einer Auswertung des Statistischen Landesamtes im Schnitt 7,1 Prozent über dem Vorjahr, die Preise für Lebensmittel stiegen im selben Zeitraum sogar um 13,8 Prozent.
Tafeln in NRW: Viele Geflüchtete aus der Ukraine wollen Mitglieder werden
Hinzu kommt laut Jung in allen Kommunen eine große Nachfrage nach Tafelmitgliedschaften durch Geflüchtete aus der Ukraine. Vor den Türen bilden sich demnach regelmäßig lange Warteschlangen. „Einige Tafeln mussten sogar schon die Aufnahme von Neumitgliedern stoppen – anders schaffen sie es leider nicht.“ Als Ursachen für die Versorgungsengpässe benennt der Landesverband die rückläufigen Lebensmittelspenden von Supermärkten und Discountern sowie einen Mangel an Helferinnen und Helfern. Etwa 16.000 Ehrenamtler zählt der Verband in den 174 lokalen Tafeln im Land.
Wenn Horst Maiß und sein Team die Türen öffnen, wissen sie etwa genau, dass die fein vorsortierten Kisten mit Brot, Fleisch, Milchprodukten, Obst und Gemüse in weniger als drei Stunden weitgehend geleert sein werden. „Am Ende eines Ausgabetages bleibt fast nichts übrig“, berichtet der Vorsitzende der Tafel in Wesel. Der Krieg in der Ukraine, der viele Geflüchtete in die Hansestadt am Rhein geführt hat, sowie die steigenden Lebensmittelpreise haben den Andrang auf gerettete Lebensmittel für Bedürftige verstärkt. Vor etwa anderthalb Jahren haben die Ehrenamtler 200 Familien pro Woche versorgt, heute sind es 300.
Tafel in Wesel: Diese Lebensmittel sind besonders begehrt
Zur Kundschaft gehören in Wesel neue Mitbürgerinnen und Mitbürger aus Krisengebieten, aber auch mehrere ältere Menschen, deren Rente nicht ausreicht. „Seit Beginn des Krieges ist die Situation sehr schlimm“, berichtet Maiß. Sein Team hat die Zahl der Ausgabestellen von zwei auf nun sechs erhöht, um der wachsenden Nachfrage gerecht zu werden. Neue Mitglieder nimmt die Weseler Tafel schon gar nicht mehr auf, die Kapazitäten sind ausgelastet. Besonders bei Milchprodukten und Fleisch gehen viele Kundinnen und Kunden leer aus. Und wenn es mal frische Teilchen und Kuchen von der lokalen Bäckerei gibt, muss der Tafel-Chef eine Aufsicht bereitstellen, damit jeder Bedürftige etwas abbekommt.
„Ehrenamtlern blutet das Herz, wenn die Rechnung zwischen geretteten Lebensmitteln und bedürftigen Menschen nicht mehr aufgeht“, sagt Petra Jung. Die Sprecherin des Landesverbandes der Tafeln in NRW bestätigt zunehmende Versorgungsengpässe bei Lebensmitteln für Bedürftige und Schlangen vor den Türen. Ein Grund: Supermärkte und Discounter verkaufen mit neuen Tricks immer mehr Ware, deren Mindesthaltbarkeitsdatum bald erreicht ist. Mithilfe von Rettungstüten und starken Reduzierungen bis zu 30 Prozent gehen viele Waren doch noch über das Kassenband statt in den Lieferwagen der örtlichen Tafel.
Tafeln in NRW: Supermärkte spenden weniger – Spargel und Erdbeeren für Bedürftige
Dieser Entwicklung wirken die Ehrenamtler durch neue Partnerschaften mit Lebensmittelherstellern entgegen. Laut Jung retten die Tafeln vermehrt Produkte, die wegen Überproduktion nicht mehr angeboten werden können. So kommt es, dass sich die armutsgefährdeten Menschen in Nordrhein-Westfalen vielerorts über Schokoladen-Osterhasen erfreuen. Sogar einige Luxusprodukte finden sich in den Tafelregalen: Weil Spargel und Erdbeeren teurer geworden sind, kaufen Konsumenten geringere Mengen, das Überangebot geht sattelschlepperweise an die Bedürftigen. „Die Situation in den Tafeln ist ein guter Indikator für die Folgen der Inflation“, meint die Verbandssprecherin.
Eine weitere Hürde für die Tafeln sei die Suche nach ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. In Wesel hätte der Mangel an Fahrern vor zwei Jahren beinahe dazu geführt, dass Horst Maiß „den Laden dicht gemacht“ hätte. Nach einem Aufruf ist die Tafel heute gut besetzt. Doch so gut geht es nicht allen Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen.
Tafel in Essen: Aufnahmestopp für neue Kunden
Die Tafel in Essen verzweifelt derzeit ebenfalls an den Gegebenheiten. Dort liegt das Problem jedoch in der Größe der Räumlichkeiten. Seit zwei Jahren sei die Stadt auf der Suche nach einem neuen Objekt – bislang ergebnislos. Durch einen Umzug verspricht sich der Vorsitzende Jörg Sartor bis zu 40 Prozent mehr Kunden unterstützen zu können. Vor rund zwei Wochen musste er noch bei 1600 Familien die Reißleine ziehen und einen Aufnahmestopp für neue Karteninhaber verhängen. Das Potenzial für Kundschaft verortet Sartor sogar bei bis zu 6000 Familien allein in Essen. Er fordert mehr staatliche Unterstützung. „Unser Auftrag als Tafel ist es, Lebensmittel vor der Tonne zu retten und Bedürftige zu unterstützen, nicht sie zu versorgen. Für die Grundsicherung ist der Staat zuständig.“
Für die Ehrenamtler ergeben sich mitunter brenzlige Situationen, wenn Tafeln potenzielle Neumitglieder ablehnen müssen. „Natürlich gibt es Menschen, die polemisch auf eine Absage reagieren und diese auf sich beziehen“, sagt Petra Jung. „Aber das darf man nicht verallgemeinern. Wir machen als Lebensmittelretter mit karikativem Hintergrund keinen Unterschied zwischen Menschen.“
Experte vom VdK NRW: „Können uns Armut nicht erlauben“
Die Aufnahmestopps in den Tafeln alarmieren Experten. „Die Tafeln leisten hervorragende Arbeit. Dennoch dürfte es sie in unserem Sozialstaat gar nicht geben müssen“, sagt Horst Vöge. Der Vorsitzende des Sozialverbandes VdK NRW fordert mehr Unterstützung für armutsgefährdete Menschen durch Bund und Land. „Seit zehn Jahren steigt der Anteil der Menschen in Armut kontinuierlich. Eine solche Situation können und dürfen wir uns als reiches Land nicht erlauben.“ Sein Verband bekommt in Gesprächen regelmäßig die Sorgen vieler Menschen über die Inflation widergespiegelt. Vöge berichtet etwa von Senioren, welche sich die Zuzahlung zu notwendigen Medikamenten nicht leisten können oder ihr Essen auf Rädern teilen: „Solche gravierenden Einzelschicksale spielen sich vermehrt im Schatten der Gesellschaft ab.“
Diese Tendenz lässt sich an offiziellen Zahlen ablesen. Wie das Statistische Landesamt mitteilt, sind in NRW 3,3 Millionen Menschen von Armut betroffen. Ihr Anteil an der gesamten Bevölkerung liegt bei 18,7 Prozent und ist damit im Vergleich zum Jahr 2021 leicht gestiegen (+0,1 Prozent). Als armutsgefährdet gelten Menschen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens bekommen. Die Armutsgefährdungsschwelle für einen Einpersonenhaushalt lag in NRW bei 1166 Euro pro Monat. Besonders Alleinerziehende sind betroffen.