An Rhein und Ruhr. Die neue Pflegekammer NRW sieht sich Forderungen nach einer Urabstimmung über ihren Fortbestand ausgesetzt.

Nein, ruhige Wochen und Monate liegen nicht hinter Sandra Postel. Dass es in nächster Zeit ruhiger werden wird, ist für die geschäftsführende Vorsitzende der Pflegekammer NRW nicht zu erwarten. Im Interview mit der NRZ spricht sie über Widerstände, Gewalt im Krankenhaus, und die schwierige Suche nach Fachkräften.

Die Einrichtung der Pflegekammer in Nordrhein-Westfalen ist nicht geräuschlos passiert: Braucht das Land NRW, brauchen die Pflegekräfte eine Kammervertretung? Warum?

Wir würden nicht auf die Idee kommen, eine Kammer zu gründen, wenn es nicht einen großen Handlungsbedarf geben würde, die Pflege auf andere Füße zu stellen. Schauen wir uns die letzten 30 Jahre an: Was hat sich für die Pflege getan? Die Tatsache, dass wir einen Pflegenotstand haben, das ist absolut nichts Neues. Tatsache ist, dass egal mit welcher Gesetzesinitiative, ob nun im Krankenhausbereich, der ambulanten oder stationären Pflege, es immer schwieriger wurde für die Pflegenden. Wir haben aktuell allein im Krankenhaussektor bundesweit 30.000 Pflegende weniger als noch 1994. Pflege saß im Gesetzgebungsprozess nicht mit am Tisch, was die Verhandlungen, Stellungnahmen, Anhörungen anbelangt. Es gab bislang keinen systematischen Prozess, wie Pflege als Interessenvertretung agieren kann. Das Vakuum wurde teilweise versucht zu füllen, indem sich Gewerkschaften und Berufsverbände stark gemacht haben, das möchte ich auch wertschätzen. Aber es muss mehr getan werden.

Was entgegen Sie den Kritikern?

Es gibt zwei große Kritikergruppen. Erstens sind das die Gewerkschaft Verdi und auch die SPD. In Rheinland-Pfalz ist das bei den Sozialdemokraten zum Beispiel anders, da ist Malu Dreyer eine Befürworterin der Kammer. Wir stehen sehr viel im Kontakt, haben den Austausch mit allen gesundheitspolitischen Sprechern der Landtagsfraktionen. Zweitens sind das die Kolleginnen und Kollegen, die mir in diesem Zusammenhang wichtiger sind. Wir reden von einem Berufsstand, der komplett am Boden liegt und an jeder politischen Weiterentwicklung erstmal grundsätzlich Zweifel hegt. Diese Stimmen sehen nur diese Zwangsregistrierung und den Zwangsbeitrag. Da müssen wir erstmal etwas entgegenstellen. Und das werden wir. Wir haben jetzt eine Kammerversammlung, in die auch Kritiker gewählt worden sind und dort genau für die kritischen Kollegen die Entwicklung begleiten. Und das ist gut so. Wir sind ein Stück junge Demokratie.

Was kann denn die Pflegekammer leisten, woran mangelte es?

Zwei Sachen. Erstens: Es werden Zahlen, Daten, Fakten benötigt. Wir wissen in Nordrhein-Westfalen aktuell nicht, wie viele Pflegende wie und wo tätig sind. Das müssen wir jetzt aufbauen mit einem guten Register. Zweitens: Wir brauchen Normen, die die Pflege selbst aufstellen darf. Es muss gesagt werden, das ist wirklich Pflege, so findet gute Pflege statt. Das ist die Voraussetzung dafür, sagen zu können, was wir brauchen, welche Gesetzgebungen notwendig sind. Das Normenrecht und das Register sollten beides in den Händen der Pflegenden liegen.

In Schleswig-Holstein und in Niedersachsen haben sich Pflegekammern durch Urabstimmungen von innen wieder aufgelöst. Ist das in NRW auch zu befürchten? Verdi und die SPD sprachen sich ja für so eine Abstimmung aus.

Die Einrichtung der Pflegekammer beruht auf einem Mehrheitsbeschluss des Landtags. Das war eine demokratische Abstimmung. Jetzt haben wir gewählte Kammervertreterinnen und -vertreter, auch wenn die Wahlbeteiligung mit knapp über 22 Prozent gering war. Eine Urabstimmung würde der Pflege aus meiner Sicht nun massiv schaden. Dafür müssten wir Geld in die Hand nehmen, einen weiteren Beitrag erheben, weil das nicht in der Anschubfinanzierung enthalten ist. Und wir bräuchten vorher ja sowieso das Register. Das würden wir vielleicht bis Ende des Jahres schaffen. Wir würden durch so einen Prozess wertvolle Zeit verlieren. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, auf die Rückmeldungen der Kolleginnen und Kollegen zu hören und die eigene Arbeit auch kritisch begleiten zu lassen.

Was ist von der Reform hin zur generalistischen dreijährigen Ausbildung von Pflegefachkräften zu halten, die im Pflegeberufegesetz seit 1. Januar 2020 festgeschrieben ist?

Das war eine politische Entscheidung, bei der die Pflegenden selbst nicht gefragt wurden. Die Pflege wurde nicht richtig definiert. Das führte eben dazu, dass die Aufgabenbereiche der Pflegekräfte vollgestopft wurden mit vielen nichtpflegerischen Maßnahmen. So wie es momentan ausgestaltet ist, ist es der Kompromiss eines Kompromisses. Trotzdem bin ich Befürworterin einer generalistischen Ausbildung, wie sie auch in fast allen Ländern absolut üblich ist. Nirgendwo wird Pflege aufgeteilt in eine Pflege von Kranken, Alten und Kindern. Diese Aufteilung hat sich überholt und musste reformiert werden.

Ein Ansatzpunkt, um dem in Deutschland herrschenden Fachkräftemangel zu begegnen, ist das Anwerben von Personal im Ausland. Ist das eine realistische Perspektive?

Es ist aktuell nicht attraktiv in Deutschland in der Pflege zu arbeiten. Fachkräfte aus Mexiko, Tunesien, Indien oder auch Spanien kommen hierhin, weil es attraktiv ist in unserem Land zu leben. Die erleben aber die Situation in der Pflege und gehen wieder nach Hause. Es ist nicht das Problem der Anwerbung. Wir müssen dafür sorgen, dass die unfassbar langen Wartezeiten bei den Anerkennungsverfahren verkürzt werden. Wir haben einen wahnsinnigen Bürokratieaufwand. Das bedeutet: Die Leute arbeiten schon hier, aber ihre Qualifikation kommt noch nicht zum Tragen. So erhalten sie auch nur eine geringe Entlohnung. Es dauert ein gutes dreiviertel Jahr. Und da reden wir schon vom beschleunigten Verfahren. Wir haben in Kliniken und Altenheimen ein viel hierarchischeres System als man es in anderen Ländern gewohnt ist. Es gibt kein zusätzliches Geld, um etwa Migrationsbeauftragte freizustellen. Das heißt im bestehenden System, eine Fachkraft aus der Patientenversorgung rauszunehmen. Dabei ist das gut investiert, weil ich dadurch den jeweiligen Kollegen besser angeleitet bekomme. Jede dritte Fachpflegeperson hat einen Migrationshintergrund.

Beim sogenannten Corona-Bonus gab es eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: Für Pflegekräfte, die in einer Intensivstation eingesetzt sind, gab es die Bonuszahlung, Beschäftigte in der Notaufnahme gingen leer aus.
Beim sogenannten Corona-Bonus gab es eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: Für Pflegekräfte, die in einer Intensivstation eingesetzt sind, gab es die Bonuszahlung, Beschäftigte in der Notaufnahme gingen leer aus. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Muss denn aus Ihrer Sicht eher an die Bezahlung herangegangen werden oder sind es die Arbeitsbedingungen, die es zu verbessern gilt?

Die Bezahlung ist definitiv eine Sache, die wir überdenken müssen. Warum sollte die Leitung einer Intensivstation mit Verantwortung für 40 bis 50 Mitarbeiter weniger verdienen als ein Oberarzt? Zusätzliche Qualifizierungen müssen anerkannt werden, auch bei der Entlohnung. Und wir sprechen dann auch von informellen Kenntnissen, die man im Laufe seines Berufslebens erwirbt. Das ist beispielsweise für Ärzte deutlich einfacher und für Pflegefachkräfte eigentlich gar nicht vorgesehen. Bonuszahlungen, so wie wir sie mit dem sogenannten Corona-Bonus erlebt haben, sind absolut kontraproduktiv. Es gab eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, die zu Unmut führte. In der Notaufnahme, wo die Kolleginnen und Kollegen ebenfalls mit Corona-Kranken über Stunden zu tun hatten, griff der Bonus nicht, ein paar Meter weiter auf der nächsten Station aber schon. Das war nicht durchdacht.

Die Angriffe auf Rettungskräfte an Silvester haben für viel Aufsehen gesorgt. Erst kürzlich beschäftigte sich der Landtag unter anderem in einer Expertenanhörung auf Antrag der SPD-Fraktion damit, wie Gesundheitspersonal besser vor Übergriffen geschützt werden kann. Wie sieht der Alltag für die Beschäftigten in den Einrichtungen aus?

Pflegefachkräfte erleben alle Facetten der Gewalt. Es geht eigentlich schon bei unbeabsichtigten Grenzverletzungen los. Um ein Beispiel zu nennen: Es ist nicht ok, wenn sich eine Fünfundsiebzigjährige über die Kehrseite eines jungen Auszubildenden auslässt. Bei Sprüchen fängt das Spektrum an und geht dann weiter bis zu tätlichen Angriffen und sogar Vergewaltigungen.

Wir waren von dem Ergebnis einer Ad-hoc-Umfrage nicht überrascht, dass 90 Prozent der Kolleginnen und Kollegen angaben, schon Gewalt erlebt zu haben. Wir wissen aus der Studienlage, dass wir von 74 Prozent der weiblichen, aber auch von 46 Prozent der männlichen Pflegefachpersonen Rückmeldung haben, dass sie Grenzüberschreitungen bis hin zu sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren.

In der Anhörung im Landtag wurde über eine Meldepflicht für Übergriffe diskutiert, ist so etwas sinnvoll?

Weitere Bürokratie ist das Letzte, was wir brauchen. Es muss immer die Frage gestellt werden, was bringt mir eine Meldung? Es müssen auch Konsequenzen aus einem Meldesystem entstehen.

Wir sollten stärker auf das Thema Qualifizierung setzen. Natürlich muss das in die Ausbildung hinein, ich muss als Pflegefachperson einschätzen können, welches Gewaltpotenzial durch das Krankheitsbild eines Patienten induziert ich vor mir habe. Im Krankenhaus hat man es mit alkoholisierten Personen zu tun, mit verwirrten Patientinnen und Patienten. Da braucht man einen gewissen Grundstock. Bei Übergriffen und Gewalt muss es eine Nulltoleranz geben, ein eindeutiges Einschreiten der Führungskräfte.

Wir haben lange in unserer Expertengruppe über das Thema Videoüberwachung gesprochen. Das ist ein Vorstoß, der von der SPD und von Verdi kam. Wir sprechen hier aber über sehr geschützte Räume, dürfen nicht nur an das Krankenhaus denken, gerade in der Altenhilfe geht es sehr viel um Vertrautheit. Wir können uns nicht vorstellen, ambulante Pflegekräfte mit Bodycams auszustatten. Natürlich gibt es Institutionen, in denen eine Überwachung notwendig ist, ich denke da etwa an die Forensik.