Düsseldorf. Die Gewalt gegenüber dem Gesundheitspersonal nimmt zu. Neun von zehn Pflegekräfte berichten von Übergriffen. So will die Politik gegensteuern.

Pöbeleien bei Corona-Eingangskontrollen, sexistische Kommentare gegenüber Pflegerinnen, Böllerwürfe in der Silvesternacht auf Rettungswagen oder gar Morddrohungen in der Notaufnahme aus Ärger über Wartezeiten: Die Bandbreite an Gewalt, der sich das Gesundheitspersonal in Nordrhein-Westfalen ausgesetzt sieht, ist offenbar gigantisch. Nicht erst seit Beginn der Pandemie vor inzwischen gut drei Jahren seien die Sitten nach Auskunft von Expertinnen und Experten in Krankenhäusern, Altenheimen, aber auch der ambulanten Pflege rauer geworden. Bei einer Anhörung im Landtag wurde über das Ausmaß der Probleme diskutiert. Die einmütige Meinung: Auch nach dem Ende der Coronamaßnahmen wird die Gewalt nicht plötzlich verschwinden.

Silvester: Thema ist hochaktuell

Die SPD-Fraktion hatte im September einen Antrag unter dem Titel „Respekt für unser Gesundheitspersonal sicherstellen!“ auf den Weg gebracht, der nun Grundlage der Anhörung wurde. Schon damals stand für die Sozialdemokraten fest, dass sich das Gesundheitspersonal mit einer wachsenden Anzahl an Anfeindungen und Bedrohungen konfrontiert sehe und umfassende Maßnahmen zum Schutz benötigt wurden. „Das Ausmaße der Vorfälle in der Silvesternacht auch in NRW hat deutlich gemacht, wie aktuell das Thema ist“, erklärte Rodion Bakum (SPD).

„Gewalterfahrungen sind keine Einzelfälle, sie finden nicht nur in der Notaufnahme statt, sondern in allen Bereichen“, führte Dr. Matthias Ernst, Präsidiumsmitglied der Krankenhausgesellschaft NRW (KGNW), aus. „Die Intensität der verbalen, körperlichen, sexualisierten Gewalt hat sich verstärkt. Die Hemmschwellen sind geringer, die Zündschnüre kürzer geworden in der Zeit der Pandemie.“

Beispielhaft erwähnte Ernst Vorfälle am St. Willibrord-Spital in Emmerich. Dort sah sich die Krankenhausleitung Anfang des Jahres nach massiven Anfeindungen und Drohungen gegenüber dem Personal gezwungen, die Zugangsregelungen zu lockern und keinen negativen Coronatest einer offiziellen Teststation mehr zu verlangen (die NRZ berichtete).

KOMMENTAR VON MARCEL SROKA:BETROFFENE NICHT ALLEINE LASSEN

Vertreter der frisch gegründeten Pflegekammer NRW, die sich als Interessenvertretung der rund 200.000 Pflegefachpersonen im Land sieht, führt an, dass laut einer Befragung 91 Prozent der Pflegekräfte von Gewalterlebnissen berichten können. „Gewalt und Gewaltprävention werden nicht weniger wichtiger werden“, so Sandra Postel, die geschäftsführende Vorsitzende der Kammer. Aufgrund der angespannten Personalsituation fehle oft die Zeit, entsprechende Fortbildungen zu besuchen, bei denen es um die Reaktion auf Bedrohungen und gefährliche Situationen gehe.

Postel wurde in die Anhörung von Dominik Stark, Fachintensivpfleger an der Uniklinik Köln, begleitet. „Der Personalmangel macht sich bemerkbar. Wenn Patienten in der Notaufnahme bis zu zehn Stunden warten müssen, gibt es häufiger verbale Anfeindungen, weil der Stresslevel steigt.“ Er selbst habe schon eine Situation erlebt, bei der er eine Morddrohung erhielt, die schließlich zu einem Polizeieinsatz führte. „Der Bedarf für Fortbildungen ist immens, um den richtigen Umgang zu erlernen.“ Sein Appell: „Bitte nehmt Geld in die Hand, um für eine vernünftige Personalsituation zu sorgen, damit sich die Beschäftigten Zeit für Seminare freiräumen können.“ Auch in die Ausbildungspläne müssten diese Inhalte übernommen werden.

Nicht nur auf Pfleger schauen

Victoria Albrecht, Gewerkschaftssekretärin bei Verdi, rief in Erinnerung, nicht nur auf Vollzeit-Pflegekräfte zu schauen. „Auch andere Beschäftigte in Krankenhaus, etwa Reinigungspersonal oder Pförtner, erleben Übergriffe.“

Eine Meldepflicht für Angriffe sahen die Experten im Landtag nicht als zielführend an: Der bürokratische Aufwand dafür sei zu groß. „Nach zehn Stunden Dienst noch Papierkram zu erledigen, ist zu viel“, schilderte Dominik Stark. Den Beschäftigten aber niederschwellige Angebote und Anlaufstellen zu bieten, seien die richtigen Ansätze.