An Rhein und Ruhr. Fiebersäfte, Schmerzmittel für Kinder und bestimmte Antibiotika: überall gibt es aktuell Engpässe. Warum Ärzte und Apotheker Alarm schlagen.
Ulrich Schlotmann, der die „Dorf-Apotheke“ in Goch betreibt, spricht von einer Situation, die er so in seinem Berufsleben noch nicht erlebt habe – „und ich bin seit 1970 dabei“. Auch Dr. Michael Wefelnberg, niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin in Hünxe und Vorsitzender der Kreisstelle Wesel der Ärztekammer Nordrhein, sieht eine „dramatische Lage, die es so noch nicht gegeben hat“. Der aktuelle Mangel an bestimmten Medikamenten, gerade Fiebersäfte für Kinder sind in vielen Apotheken nur schwer zu erhalten, aber auch spezifische Antibiotika oder Blutdruckmittel kaum verfügbar, sei beispiellos. Und sorgt für zusätzliche Belastungen für das Personal in Apotheken und Praxen. Zum Teil versuchen Menschen im Grenzgebiet Medikamente in den Niederlanden zu erhalten, die in Deutschland vergriffen sind.
Patientinnen und Patienten zeigen Verständnis
„Es ist eine Katastrophe“, beschreibt der Mediziner Michael Wefelnberg die derzeitige Lage. Zusätzlich zu den vollen Wartezimmern aufgrund der Erkältungs- und Grippewelle – Corona spielt eine kleine Rolle – müssten sich Ärztinnen und Ärzte darüber Gedanken machen, Behandlungspläne umzustellen. „Da viele Medikamente zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen Lieferprobleme haben, muss auf andere Präparate umgestiegen werden. Das führt zu Schwierigkeiten, da die Medikamente ja aufeinander abgestimmt waren.“
Auch bei Antidiabetika gebe es massive Probleme. „Zwar hat eine Herstellerfirma angekündigt, drei neue Fabriken aufzubauen, aber das wird seine zwei bis drei Jahre dauern“, gibt der Hünxer Arzt zu Bedenken.
Immerhin sei das Verständnis bei den Patientinnen und Patienten größer geworden. „Viele lesen ja die Zeitung und wissen um die Problematik“, sagt Wefelnberg.
Alternativen im Gespräch mit Eltern aufzeigen
„Durch die mediale Präsenz des Medikamentenmangels sind viele nicht mehr so überrascht, wenn sie ein bestimmtes Präparat nicht mehr erhalten“, berichtet auch Apotheker Schlotmann. „Aber natürlich kommt die Frage auf, wie so etwas passieren konnte in einem reichen Land wie Deutschland.“
Schlotmann und seine Beschäftigten hätten alle Hände voll zu tun. „Wir bemühen uns, Alternativen aufzuzeigen, etwa kleinere Packungen auszugeben, und so viel es geht zu ermöglichen“, so Schlotmann. Im Gespräch mit Eltern ginge es dann etwa um Wadenwickel bei Fieber oder die richtige Dosierung von Paracetamol, wenn Säfte nicht erhältlich sind.
Eindringliche Warnung: Keine Medikamente weitergeben
Eine eindringliche Bitte hat der Gocher Apotheker in Bezug auf die Weitergabe von Medikamenten. Er sieht die von Klaus Reinhardt, dem Präsidenten der Bundesärztekammer, angeschobene Diskussion um Nachbarschaftshilfen in Form von „Flohmärkten für Medikamente“ kritisch.
„Abgelaufene Präparate sollten entsorgt werden. Verschriebene Medikamente, etwa starke Schmerzmittel, dürfen nicht einfach an andere Personen weitergegeben werden.“
KLARTEXT VON DENISE LUDWIG:PILLEN IN EUROPA HERSTELLEN!
Nicht realistisch sei es, beispielsweise Fiebersäfte selbst herzustellen. „Zum einen bekommen wir derzeit die Rohstoffe nicht.“ Allein die richtigen Glasbehälter, die sich etwa von handelsüblichen Weinflaschen unterscheiden, seien kaum zu bekommen. „Das Material braucht bestimmte Resistenzgrade“, so Schlotmann. „Zum anderen sind die Dokumentations- und Prüfpflichten enorm hoch.“ Zumal das Fachpersonal für die Beratung der Patienten benötigt werde.
„Lieferengpässe bei bestimmten Präparaten haben wir in den vergangenen vier, fünf Jahren immer mal wieder erlebt. Aber die aktuelle Situation hat eine ganz neue Qualität erreicht“, führt Hanno Höhn, Chef der Nordstern-Apotheke in Essen-Karnap, aus. „In bestimmten Situationen müssen wir dann auch Rücksprache mit dem verordnenden Arzt halten, ob es in seinem Sinne ist, wenn auf andere Wirkstoffe gewechselt wird.“
Zusätzlicher Verwaltungsaufwand für Apotheken bei der Abrechnung
Lukas Heuking, der in Dinslaken die Heuking Apotheken mit Filialen in Lohberg und Hiesfeld führt, befürchtet, dass auf die Apotheken in den kommenden Monaten Probleme bei der Abrechnung mit den Krankenkassen zukommen könnten. „Wir müssen, wenn wir ein bestimmtes Medikament ausgeben, das nicht Bestandteil eines Rabattvertrages mit einem Pharmaherstellers ist, das besonders vermerken.“ Dies bedeute zusätzlichen Aufwand für die Dokumentation, sonst könnte eine Apotheke auf Kosten sitzen bleiben. „Uns geht es aber darum, den Patienten zu helfen.“
„Bei knapp jedem zweiten Patienten müssen wir bei Rezepten über Alternativen oder geänderte Dosierungen nachdenken.“
Die aktuell zu beobachtenden Lieferengpässe bei unterschiedlichen Medikamenten haben verschiedene Ursachen. So spricht etwa das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bei Fiebersäften für Kinder davon, dass es keine Rückschlüsse auf einen starken Lieferabriss gebe, es würden kontinuierlich Arzneimittel in den Markt gebracht. „Dennoch ist deutlich ersichtlich, dass unter anderem die aktuell erhöhte Atemwegsinfektionsrate bei Kindern zu einem Mehrbedarf dieser Produkte führt. Dieser kann derzeit nicht im vollen Umfang kompensiert werden.“ Vielmehr gebe es eine regionale Ungleichverteilung der Bestände innerhalb der Bundesrepublik. Für Umwälzungen auf dem Markt hatte in diesem Jahr die Ankündigung des Unternehmens „1 A Pharma“ gesorgt, aus der Produktion der Fiebersäfte auszusteigen. Somit bleibt auf dem deutschen Markt nur noch „Ratiopharm“ über. Generell seien die Lieferketten aus den asiatischen Herstellerländern aber weiter zum Teil gestört. Lockdowns in China und eine gesteigerte Medikamentennachfrage in Asien selbst hätten dazu geführt.