Aus den Niederlanden. Die Neuinfektionen in den Niederlanden sind stark gesunken. Ist das wirklich eine Trendwende oder nur Verschnaufpause vor der nächsten Welle?

Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich so, als sei das große Aufatmen angebracht – und wer würde sich das nicht wünschen? Die Niederlande sind kein Hochrisikogebiet mehr, die Sieben-Tage-Inzidenz ist zuletzt auf 103 gesunken, während das Land noch vor wenigen Wochen knapp unter einem Wert von 400 lag. Doch ist eine nachhaltige „Trendwende“, wie deutsche Medien die Pandemie-Entwicklung im Nachbarland betitelten, wirklich eingetreten?

Alexander Friedrich, Direktor der Abteilung für Medizinische Mikrobiologie, Virologie und Krankenhaushygiene am Universitätsklinikum im niederländischen Groningen, äußert Zweifel an diesem Begriff. „Aus unserer Sicht ist das keine grundsätzliche Trendwende“, so Friedrich auf Anfrage dieser Redaktion.

Groninger Virologe erwartet neue Corona-Welle in den Niederlanden

Die enorme Zunahme an Corona-Neuinfektionen sei erst aufgrund der vielen Superspreading-Events im Nachleben erfolgt, die inzwischen durch die Schließung von Clubs wieder gestoppt wurden. „Zudem haben die Sommerferien dazu geführt, dass weniger Menschen positiv getestet werden“, so der Groninger Wissenschaftler.

Friedrich erwartet mit Blick auf die aktuelle Lage im Sommer eine weitere – in den Niederlanden die inzwischen fünfte – Welle im Herbst. Und da noch nicht genügend Menschen immunisiert seien, werde es im Winter auch wieder einen starken Druck auf die Gesundheitsversorgung geben. Die Zeichen stehen aktuell also eher noch auf Verschnaufpause als auf Kehrtwende.

Rücktritt von den Lockerungen hat Neuinfektionen eingedämmt

Die niederländische „Trendwende“, in Schlagzeilen sogar schon als „Corona-Wunder“ bezeichnet, entpuppt sich auf den zweiten Blick als das Geradebügeln gescheiterter Lockerungen, die noch mehr Neuinfektionen verhindern konnten. Als die niederländische Regierung im Juni die Clubs öffnen ließ, lag die Sieben-Tage-Inzidenz bei ungefähr 35. Diese Öffnung trieb die Inzidenzen im Juli in unerwartete Höhen. Zeitweise gab es über 11.000 Neuinfektionen pro Tag, die Reproduktionszahl R lang bei 3.

Erst nach lauter Kritik ließ Premier Rutte die Clubs wieder dichtmachen und entschuldigte sich öffentlich für seinen „Einschätzungsfehler“. In den folgenden Wochen sanken die Neuinfektionen wieder – während die Krankenhausaufnahmen in Folge der hohen Inzidenzen stiegen. Dass es nicht auf eine vergleichbare Belastung der Intensivstationen wie noch im Winter kam, wird unter anderem auf die Impfkampagne zurückgeführt. Rund 85 Prozent der Bevölkerung sind zumindest einmal geimpft. Dennoch lag die Anzahl der Krankenhausaufnahmen laut Daten der Regierung noch bis Anfang August über dem Grenzwert.

Kritik an der Corona-Strategie des niederländischen Premierministers

Trotz sinkenden Neuinfektionen sind die Niederlande also noch deutlich entfernt von den niedrigen Zahlen, die sie vor Öffnung der Clubs Anfang Juni hatten. Alles andere als eine stringente Strategie, kritisieren Politikerinnen und Politikern der niederländischen Opposition. Esther-Mirjam Sent, sozialdemokratische Parlamentarierin aus Nimwegen, sieht ein klares Muster: zu früh lockern, zu spät mit Maßnahmen reagieren. Die Regierung handle „willkürlich und undurchdacht“. Am Freitag will Premier Rutte in einer Pressekonferenz über die weiteren Schritte der Pandemiebekämpfung sprechen - neue Lockerungen nicht ausgeschlossen.

Esther-Mirjam Sent von der Partij van de Arbeid hofft, dass Rutte inzwischen dazugelernt hat. In anderen Teilen der Bevölkerung kommt der Premier mit seinem Kurs, der offensichtlich weniger Augenmerk auf die Inzidenzen legt als in Deutschland, unterdessen weiterhin gut an. Im Nachbarland von NRW wird die Sieben-Tage-Inzidenz zwar wöchentlich vom Gesundheitsinstitut RIVM vermeldet, steht dennoch in der Öffentlichkeit nicht so im Mittelpunkt, wie in Deutschland.

Coronastrategie: Wie viel Bedeutung sollten Inzidenzen noch haben?

Doch auch hierzulande diskutieren Politik und Medizin zunehmend die Frage, wie aussagekräftig Inzidenzen noch für Lockdowns oder Lockerungen sein können. „Es ist natürlich so, dass Inzidenzen, die wir vor einem Jahr hatten, durch den Impffortschritt bezüglich der medizinischen Folgen nicht mehr eins zu eins mit den heutigen Inzidenzen vergleichbar sind“, sagt Mirko Trilling, Professor am Institut für Virologie des Universitätsklinikums Essen.

„Die Impfung verhindert ja zahllose Krankheiten und Todesfälle durch SARS-CoV-2. Leider gibt es jedoch immer noch einen zu großen Teil der Bevölkerung, der unvollständig oder noch gar nicht geimpft ist.“ Deshalb müsse, so Trilling, genau beobachtet werden, wie viele Menschen sich in welchen Altersgruppen und Bevölkerungsschichten infizieren.

Welche Inzidenzwerte können noch zu Maßnahmen führen?

Corona in den Niederlanden: Weitere Informationen

„Wenn unter den Infizierten viele Menschen sind, die Vorerkrankungen haben oder älter sind, ist das natürlich besonders besorgniserregend – aber auch junge Menschen können leider schwere COVID-19-Fälle entwickeln“, so der Essener Virologe. „Wir achten darauf, dass die Krankenhäuser, Notaufnahmen und Intensivstationen nicht an ihre Grenzen kommen. Falls das passiert, ist es natürlich bereits zu spät.“

Es müsse verhindert werden, dass es im Herbst und Winter dazu komme. „Deshalb sind wir in Europa gut beraten, jetzt nicht alles komplett zu öffnen, sondern diesbezüglich mit Augenmaß zu agieren. Wir sollten nicht panisch sein, aber tun gut daran, umsichtig und maßvoll zu handeln.“

Ganz abrücken von der Sieben-Tage-Inzidenz werden auch die Niederlande nicht. „Die Inzidenzwerte bleiben auch für uns hier ein Teilindikator, neben den Aufnahmen in Krankenhäusern und Intensivstationen sowie die Verbreitung von besonderen Varianten“, sagt Alexander Friedrich vom Groninger Universitätsklinikum. „Das Verhältnis zwischen Inzidenz und Aufnahmen in Krankenhäusern verändert sich jedoch auf Grund der Immunisierungsrate in der Bevölkerung. Daher sollte man regelmäßig neu beurteilen, welche Inzidenzwerte zu welchen Maßnahmen führen.“