An Rhein und Ruhr. Vier Kliniken am Niederrhein haben sich mit drei Uni-Kliniken vernetzt, um Krebsbehandlung auf höchstem Niveau anbieten zu können.

Vor vier Jahren kam für Ulrike Pöll der Alptraum zurück. Der Darmkrebs war wieder da. Nach fast 30 Jahren. Die Frau aus Wesel-Bislich war noch keine 30, als die Erkrankung sie zum ersten Mal traf. Und nun war der Tumor zurückgekehrt. Erneut Operation, erneut Chemo und erneut eine lange quälende Behandlung. Und eine, die vermutlich mit der niederschmetternden Aussage „Sie sind austherapiert!“ geendet hätte.

In einem von zehn Fällen hilft der neue Therapieansatz

Wenn es nicht seit wenigen Jahren noch eine vierte Macht im ewig währenden Kampf gegen den Krebs gäbe. Bislang haben Mediziner im Kampf gegen Krebs vor allem drei Waffen: Chirurgie, Chemotherapie und Bestrahlung. Doch immer häufiger gelingt es, die Genetik der Tumore zu entschlüsseln. Und dann mit speziellen Medikamenten in den Stoffwechsel der Krebszellen einzugreifen und das Tumorwachstum zu stoppen.

Und das Glück im großen Unglück der Lehrerin für Chemie und Englisch: Ihr Tumor weist eine Genetik auf, bei der die neue Therapie greifen kann. Nicht jeder bekommt die Chance, von der so genannten Molekularen Tumortherapie zu profitieren. Doch in einem von zehn Fällen kann modernste Medizin in Signalwege der Krebszellen eingreifen. Und so Teilungsprozesse stoppen oder den Zelltod auslösen.

Bedeutet für eine Klinik wie das Weseler Marien-Hospital: Die Mediziner um Prof. Henning Schulze-Bergkamen sehen gerade mal eine Handvoll Patienten im Jahr, für die die Therapie in Frage käme. Bis ins letzte Jahr hinein hätte das bedeutet: Überweisung an ein Uni-Klinikum, viele Fahrten für Ulrike Pöll, Untersuchungen und irgendwann die Therapie. So aber haben die Weseler Mediziner ihre Krankengeschichte samt der Befunde im „Molekularen Tumorboard“ diskutiert.

„Für uns ist das die Chance auf Krebsmedizin am Puls der Zeit“

Weil das Feld noch neu ist, ist es wichtig, dass kleinere Kliniken sich Fachwissen der Hochschulen sichern. Das ist die Idee des „Molekularen Tumorboards Niederrhein“, in dem u. a. Kliniken aus Wesel, Kamp-Lintfort, Emmerich, Duisburg zunächst mit den Uni-Kliniken Heidelberg, Mannheim und Hannover kooperieren. Der Verbund will weitere Partner einbinden, im Gespräch ist man u.a. mit dem Universitätsklinikum in Essen.

„Für uns ist das die Chance, Krebsmedizin am Puls der Zeit anzubieten“, so Schulze-Bergkamen. Mit datendiebstahlsicherer Software werden Mediziner aus sieben Kliniken zusammengeschaltet – und weitere Fachleute hinzugezogen. Der Vorteil – gerade für Kliniken auf dem Land und für kleinere Häuser: Sie können das Wissen der großen Universitätskliniken anzapfen.

Zudem werden die Häuser interessanter für Jungmediziner. Weil Praxiserfahrung in kleineren Kliniken verknüpft wird mit der Forschung. So entsteht für alle eine virtuelle Uni-Klinik – und die wird auf diesem Feld dringend gebraucht. Denn wer sich in die Welt der molekularen Krebstherapie begibt, der bewegt sich oft am Erkenntnishorizont. Hier werden Patienten behandelt mit Medikamenten, die eigentlich nicht für diesen Fall entwickelt wurde. Experten reden von „Off Label Use“. Etwa so, als ob man sich die Bierflasche mit einem Schraubenzieher aufhebelt. Ist nicht ideal, funktioniert aber.

Wie sieht es denn aus? Chefarzt Dr. Henning Schulze-Bergkamen bei der  Ultraschall-Untersuchung von Patientin Ulrike Pöll (61). Die Befunde können dann auch Fachleute der Uni-Kliniken über das
Wie sieht es denn aus? Chefarzt Dr. Henning Schulze-Bergkamen bei der Ultraschall-Untersuchung von Patientin Ulrike Pöll (61). Die Befunde können dann auch Fachleute der Uni-Kliniken über das "Molekulare Tumorboard" begutachten. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Uni-Kliniken sind zudem oft an Studien beteiligt: Vielleicht gibt es ein neues Medikament mit hoffnungsvollen Daten, und Patienten können teilnehmen. „Wir bekommen so neue Waffen im Kampf gegen den Krebs“, erklärt Prof. Gernot Kaiser vom St. Bernhard-Hospital Kamp-Lintfort. Ulrike Pöll bekommt seit Juni 2020 die neue Therapie – sie gehörte damit zu den ersten Patienten, die von der virtuellen Uni-Klinik profitierten. „Alle 14 Tage fahre morgens in die Klinik und bekomme für eine Stunde eine Infusion“, erzählt die 61-Jährige. Und anders als bei der Chemotherapie spürt sie kaum Nebenwirkungen.

Wie lange die Therapie dauert, ist offen. Und günstig ist sie auch nicht. Kein Wunder, dass Krankenversicherungen da schon mal die Augenbrauen hochziehen. „Auch da hilft uns das Tumorboard“, erklärt Chefarzt Henning Schulze-Bergkamen. Wenn renommierte Experten von Uni-Kliniken begründen, warum die Therapie notwendig ist, fällt den Kassen die Entscheidung schon mal leichter. Ulrike Pöll jedenfalls ist zufrieden. „Mir geht es gut“, sagt sie. So gut, dass sie eigentlich gerne mal wieder auf Reisen gehen würde. Die Ärzte nicken. Kein Problem. Wäre da nicht diese andere Krankheit…