Essen. Krebsforschung wird immer spezieller, am Essener Uni-Klinikum profitieren Patienten von neuen Medikamenten. Die Forscher haben große Pläne.

Jutta Jungas Frühstück wird begleitet von einem kleinen Happs, der rund 135 Euro kostet: Eine kleine weiße Pille namens Ibrutinib. Viel Geld, gewiss, aber die tägliche Tablette sorgt dafür, dass der Körper der 78-Jährigen den Krebs in Schach hält. Seit mittlerweile fast fünf Jahren. Vor elf Jahren wurde bei der Frau aus Heiligenhaus gewissermaßen nebenbei Leukämie festgestellt: „Ich habe einmal im Jahr eine Schilddrüsenuntersuchung. Dabei wurde entdeckt, dass meine Lymphknoten ungewöhnlich dick waren.“

CLL lautete die Diagnose: Chronische lymphatische Leukämie. Glücklicherweise eine Krebsart, die sich einigermaßen gut behandeln lässt. Allerdings mit einer Chemotherapie, die – wie so oft – krasse Nebenwirkungen hat. Das Medikament hingegen wählt einen anderen, schonenderen Weg.

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„Wir haben das jetzt seit gut fünf Jahren zur Verfügung. Die Entwicklung dieses Präparats hat zehn bis 15 Jahre gedauert, das ist für so ein Medikament sehr schnell“, erläutert Prof. Ulrich Dührsen, Leiter der Klinik für Bluterkrankungen. Daher hält er auch die Kosten für gerechtfertigt. „Da steckt viel Forschungs- und Entwicklungsarbeit durch Pharmafirmen hinter, manchmal sind das 20 bis 30 Jahre.“

Krebs: „Ich habe mich immer schlapper gefühlt“

Bei dem Blutkrebs von Frau Junga haben sich B-Zellen unkontrolliert vermehrt, wollten nicht mehr sterben – die Folge sind Blutarmut und irgendwann Organschäden. „Ich habe mich immer schlapper gefühlt“, erklärt die 78-Jährige. Und die Chemo führt bei ihr 2011 zu Fieberschüben und Hautkrankheiten. Vier Jahre lässt der Krebs sie in Ruhe. 2015 kehrt das Ungleichgewicht im Knochenmark zurück. Nun aber gibt es das neue Mittel, Ibrutinib. Es identifiziert die störenden B-Zellen an einem bestimmten Rezeptor. Die Substanz aus der kleinen weißen Pille stört Signalwege im Zellinneren, die Zelle stirbt ab.

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Man muss sich den Körper von Jutta Junga wie eine große Stadt vorzustellen. Die Bewohner: das sind die Zellen. Einige von ihnen werden kriminell – wie bei jedem von uns. Dagegen hilft die Polizei, das Immunsystem, es erwischt sie und zieht sie aus dem Verkehr. Dumm nur, wenn es plötzlich bei der Polizei Verräter gibt, die die Seiten wechseln, kriminell werden und sich vermehren.

Deutlich besser als immer wieder in Zyklen mit einer Chemotherapie zu gehen, die bei Jutta Junga alle Zellen angreifen würden, die sich schnell teilen. Immunzellen, Haarzellen, Schleimhautzellen. „Das ist alles andere als eine schöne ärztliche Maßnahme“, sagt Prof. Dührsen. Die Chemo, sie legt quasi die gesamte Polizei still – und schwächt daher die ganze Stadt.

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Ibrutinib hingegen lauscht quasi den Funkverkehr der Zellen ab und eliminiert jene, die sich zu kriminellem Tun verabreden. Zugegeben, vielleicht auch noch einige mehr, die sich nicht klar ausgedrückt haben – aber Jutta Junga kann auch auf ein paar gesunde B-Zellen verzichten: Sie spürt nur einige wenige Nebenwirkungen. „Ich habe öfter mal Blasenentzündung und bekomme schnell blaue Flecken“. Dafür wird der Krebs, so drückt es Dührsen aus, in Schach gehalten.

Den Krebs besser zu verstehen und neue, sanftere Wege zur Bekämpfung zu finden, daran arbeiten ein paar Gebäude weiter die Forscher des Instituts für Zellbiologie und Tumorforschung. „Unsere Grundfrage ist: Wie funktioniert eigentlich ein Tumor? Wie kommt es, dass einige wenige Zellen abrupt anfangen, sich immer weiter zu teilen? Und was kann man dagegen tun?“ erläutert Prof Ralf Küppers vom Institut für Zellbiologie.

Drei Wege beim Krebs: operieren, vergiften oder bestrahlen

Bislang gibt es vor allem drei Wege, dem Krebs Einhalt zu gebieten: Operieren, vergiften mit Chemotherapie oder bestrahlen. Die Strahlentherapie hat den Vorteil, dass man genau auf den Tumor zielt. Der Nachteil ist, erklärt Verena Jendrossek, Professorin für Zellbiologie: Oft kann nicht so intensiv bestrahlt werden, dass alle Tumorzellen sterben, vor allem Zellen aus dem Inneren des Tumors, aus sauerstoffarmen Regionen, überleben womöglich.

Weil diese Zellen gelernt haben, unter besonders sauerstoffarmen Bedingungen zu überleben, setzen hier die Forscher an. Wenn Tumorzellen sich anpassen, sind sie schwer zu bekämpfen, daher versuchen die Forscher, genau das zu verstehen und zu nutzen. Wer versteht, wie sich Zellen dem Sauerstoffmangel anpassen und welche Signalwege in der Zelle eine Rolle spielen, kann diese womöglich blockieren – und so am Ende mit einem Medikament verhindern, dass sich Tumorzellen so gut anpassen.

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Dafür betreibt das Institut für Zellbiologie hohen Aufwand: Zunächst mal muss es in Blut und Gewebeproben die Krebszellen finden, diese dann durch Zellsortierung gewinnen und sie dann in einer sauerstoffarmen Umgebung züchten und untersuchen. Wie riesige Brutkästen sehen die gläsernen Vitrinen aus, in denen Johann Matschke aus der Arbeitsgruppe Molekulare Zellbiologie hantiert, indem er seinen Händen durch zwei Öffnungen in Handschuhe schlüpft.

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Ein einziger Brutkasten kostet eine knappe halbe Million. Zu stemmen ist das für die Uni-Klinik nur dank Mitteln von der Deutschen Forschungsgemeinschaften und durch die Unterstützung von Spendern und Stiftungen. Von der Hochschule selbst gibt es gerade einmal 30.000 Euro pro Jahr für Großgeräte. Dabei ist das Geld gut investiert: Für seine Forschungen zum Stoffwechsel von Krebszellen unter Sauerstoffmangel erhielt Johann Matschke erst kürzlich einen internationale Auszeichnung.

Die Hoffnung der Forscher: Verstehen sie, wie sich Tumorzellen auf die wechselnde Sauerstoffversorgung einstellen, kann diese Reaktion mit einem Medikament stören. Die Tumoren wären empfindlicher für eine Therapie – im Idealfall würde dem Krebs die Luft ausgehen.