Gangelt. Vor einem Jahr wurde in Gangelt der erste Fall in NRW nachgewiesen. Weiter bestimmt Corona den Alltag, die Einwohner sind stolz auf Solidarität.

Die berühmteste Karnevalssitzung, sie fand vor ziemlich genau einem Jahr nicht in Köln, Düsseldorf oder Mainz, sondern in Gangelt im Kreis Heinsberg statt. Genauer gesagt im Ortsteil Langbroich-Harzelt, knapp 1000 Menschen leben hier. An der Kappensitzung nahm ein bereits infizierter Mann teil. Es sollte der Anfang der Corona-Pandemie in NRW werden, die Gemeinde an der niederländischen Grenze wurde zum ersten Hotspot des Landes. Ein Jahr später haben die Gangelter, wie der Rest der Welt, gelernt mit der Pandemie zu leben.

An diesem eisig kalten, sonnigen Februarmittag sind im historischen Zentrum nur wenige Menschen unterwegs. Idyllisch ist es hier, abseits der Straßen liegt ein wenig Schnee. Die drei noch erhaltenen Stadttore und Reste der alten Stadtmauer zeugen von der langen Geschichte des Ortes. Eine Galerie, eine Pension und mehrere kleine Geschäfte säumen die Heinsberger Straße – fast alle haben gerade geschlossen. Maria Baums ist auf dem Weg zum Bäcker, dank Mütze, Schal und FFP2-Maske ist kaum noch etwas von ihrem Gesicht zu sehen. „Keiner hätte doch gedacht, dass Corona uns jetzt immer noch beschäftigt“, sagt die 57-Jährige. „Das Jahr ist an uns vorbeigeflogen.“

„Auf einmal kannten wir alle jemanden, der bei der Sitzung war und Corona hatte“

An die Anfangszeit erinnert sie sich noch gut. „Auf einmal kannten wir alle jemanden, der bei der Sitzung gewesen war und Corona hatte“, sagt Baums. Auf ihrer Straße habe sicher die Hälfte der Menschen das Virus gehabt. „Da waren wir gezwungen, das sehr schnell ernst zu nehmen.“

Bürgermeister Guido Willems ist mitten in der Pandemie ins Amt gewählt worden. Das Rathaus steht direkt gegenüber des Bergfrieds, dem Überrest der alten Burg.
Bürgermeister Guido Willems ist mitten in der Pandemie ins Amt gewählt worden. Das Rathaus steht direkt gegenüber des Bergfrieds, dem Überrest der alten Burg. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Es sei ein glücklicher Umstand, dass fast jeder jeden kenne. „Quarantäne-Einkäufe, Post reinholen und Blumen gießen, wenn jemand im Krankenhaus lag, das haben wir mit Verwandtschaft, Nachbarn und Freunden gut hinbekommen“, erzählt sie. Langsam, meint sie, zerre der lange Lockdown an den Nerven, aber „da müssen wir jetzt eben durch.“

Viele sind das Thema Corona einfach leid

Einige Meter weiter kommt Rolf Ziegler gerade aus dem Penny-Markt. Er lebt im Nachbarort Selfkant, hat Familie in Gangelt. „Da hieß es dann von einem Tag auf den anderen: Kommt uns nicht mehr besuchen“, erzählt er. Wenige Tage später wurden aber ohnehin in allen angrenzenden Gemeinden Menschen positiv getestet. „Wir haben alle zusammengehalten, wenn man als Kreis so ins Scheinwerferlicht katapultiert wird, rückt man automatisch näher zusammen.“ Mittlerweile seien viele das Thema leid. „Aber Corona wird uns wohl noch länger begleiten“, meint Ziegler. „Ich bin froh, dass die Situation im Moment einigermaßen im Griff ist und ich in der kommenden Woche geimpft werde“, so der 81-Jährige.

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Dass man in der 13.000-Einwohner-Gemeinde bei den Fallzahlen aktuell auf einem guten Weg sei, bestätigt auch Bürgermeister Guido Willems (CDU). Er wurde im September mitten in der Pandemie gewählt und löste seinen Vorgänger Bernhard Tholen nach 23 Jahren im Amt ab. Kein einfaches Erbe, aber Willems war von Anfang an mitten im Geschehen. Als Leiter des Büros von Landrat Stephan Pusch war der 39-jährige Politiker auch Teil des Krisenstabs im Kreis Heinsberg, der sofort nach Bekanntwerden des ersten Falls reagierte. „Wir haben damals wirklich sehr schnell Entscheidungen getroffen“, sagt Willems mit Blick auf die Karnevalstage.

Aschermittwoch war schon alles dicht

Aschermittwoch, am 26. Februar, waren schon alle Schulen und Kitas geschlossen. „Es gab damals noch keine Vorgaben von Land oder Bund, wir haben selbst die Regelungen getroffen, um die Bürger zu schützen.“ Dann ließ sich in Gangelt beobachten, was auch im Rest des Landes bald Normalität werden sollte: Schlange stehen vor den Apotheken, Hamstern in den Supermärkten, Kamerateams aus ganz Europa. „Viele fühlten sich überrollt von dem Interesse und natürlich war es für die ersten Infizierten besonders schwierig“, erklärt Willems.

Hier standen die Menschen vor einem Jahr Schlange: Die Grenzland-Apotheke in Gangelt.
Hier standen die Menschen vor einem Jahr Schlange: Die Grenzland-Apotheke in Gangelt. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Relativ schnell jedoch schaffte es der Kreis, die Aufmerksamkeit von Gangelt wegzulenken, hin zu Landrat Pusch, der fortan täglich auch auf Facebook über die Situation im Kreis berichtete. Mut machte, Unterstützung anforderte, wo sie nötig war, auf die Sorgen der Bürger einging. Das kam an: Pusch ist mittlerweile gefragter Gast in Talkrunden, wo der CDU-Politiker – typisch rheinländisch – sehr direkt, aber sympathisch seine Meinung äußert. Zuletzt zum langsamen Impf-Fortschritt und zum Distanz-Unterricht. „Offenheit war uns ganz wichtig“, erklärt Willems. „Wir haben alle Anfragen beantwortet, von unseren lokalen Medien über Al-Jazeera bis hin zur New York Times.“

Von 13.000 Einwohner hatten 1800 das Virus

So sei Gangelt für viele auch zum Vorbild in Sachen Kommunikation geworden. Willems selbst hatte nach Karneval Kopfschmerzen, fühlte sich schlapp und verlor seinen Geruchssinn. „Damals wussten wir aber so wenig über Corona, es war nicht bekannt, dass dies typische Symptome sind.“ Alle hätten nur auf Fieber und Erkältungssymptome geachtet. Der dreifache Familienvater arbeitete – wie so viele andere – weiter. So sei auch die Dunkelziffer unheimlich hoch gewesen.

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Daten der Heinsberg-Studie, die der Virologe Professor Hendrik Streeck durchführte, zeigen: In Gangelt gibt es fünfmal so viele Corona-Infizierte wie in Fallstatistiken auftauchen. Etwa 1800 Einwohner hatten das Virus nach diesen Berechnungen bereits, einige haben das nicht einmal bemerkt. Andere dagegen umso heftiger: „Wir alle hier kennen Menschen, die an Corona gestorben sind oder schwer erkrankt sind und die Langzeitfolgen noch heute spüren“, sagt Willems. „Ich denke, das hat uns alle auch ein wenig demütig im Umgang mit dieser Pandemie werden lassen.“ Querdenker und Corona-Leugner, sagt der Bürgermeister, gebe es hier fast nicht.

Bürgermeister wünscht sich wieder mehr regionale Gestaltungsmöglichkeiten

Was nicht heiße, dass der Lockdown mit all seinen Folgen keine Spuren hinterlasse. „Da würden wir uns mehr Eigenständigkeit wünschen, um auf lokaler und regionaler Ebene entscheiden zu können“, so Willems. Gangelt sei eben keine Großstadt, gegen die Öffnung des Wildparks oder auch der Geschäfte und Restaurants unter Einhaltung der AHA-Regeln spreche aus seiner Sicht nichts. Mit dem Impfen in Alten- und Pflegeheimen sowie Krankenhäusern sei man mittlerweile durch.

Ein Jahr Corona: Auch im Kreis Heinsberg bestimmt das Virus noch immer den Alltag.
Ein Jahr Corona: Auch im Kreis Heinsberg bestimmt das Virus noch immer den Alltag. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Trotz allem, glaubt der Bürgermeister, haben sich die Menschen hier nicht verändert. „Corona ist ein einschneidendes Ereignis, das jeden einzelnen betrifft und anfangs war es auch ein großer Schock, aber die meisten hier haben auch ein gutes Netzwerk, konnten sich auf Hilfe verlassen und waren nicht allein mit ihren Problemen.“ Und längst sei das Virus ja auch keine lokale Herausforderung mehr.

Virologe Streeck forscht weiter im Kreis Heinsberg

An ihre Kappensitzung werden aber wohl nicht nur die Gangelter noch lange zurückdenken. Nach neuesten Erkenntnissen von Virologe Hendrik Streeck, der zu dem Virus in Gangelt weiter forscht, feierten mehrere Infizierte mit, nicht nur einer. Das glaubt auch Willems. „Es gab 20 bis 30 Sitzungen im Umkreis, da wird es einige Infizierte auf den Veranstaltungen gegeben haben.“