Berlin. Als die Wissenschaftlerin Manuela Macedonia merkte, dass ihr Kurzzeitgedächtnis nachlässt, gab ihr eine Kollegin einen entscheidenden Tipp.
Gehirnjogging? Vergessen Sie’s. Gedächtnisforscherin Manuela Macedonia sagt: Wer sein Gehirn trainieren will, sollte lieber laufen statt Rätsel lösen.
Frau Dr. Macedonia, gerade ist Ihr Debüt „Beweg dich!“ erschienen. Es handelt von Zusammenhängen physischer und geistiger Fitness. Wie kommt eine Neurowissenschaftlerin zum Sport?
Dr. Manuela Macedonia: Ganz einfach: durch zu viel Schreibtischarbeit. Vor ein paar Jahren fand ich einen Fachartikel zu einem völlig anderen Thema und machte mir begeistert Notizen – erst Seiten später merkte ich, dass ich denselben Text schon vor ein paar Monaten gelesen hatte. Ich war entsetzt. Wenn das Kurzzeitgedächtnis schlappmacht, ist das für eine Gehirnforscherin besonders furchteinflößend.
Welche Rückschlüsse haben Sie daraus gezogen?
Macedonia: Dass es offenbar nicht schlauer macht, zwölf Stunden täglich über der Arbeit zu brüten. Eine Kollegin, die damals Messungen am Hippocampus, unserer zentralen Hirnregion für Lernen und Gedächtnis, durchführte, legte mir ans Herz, mehr Sport zu machen. Ich fing an, jeden Tag mit dem Rad zu fahren. Nach ein paar Monaten konnte ich mir wieder merken, was ich gelesen hatte und wo meine Schlüssel lagen.
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Demenz: Diese Rolle spielt Sport
Wie lässt sich das erklären?
Macedonia: In Hippocampus und Hirnrinde speichern wir alle relevanten Informationen: ob wir den Herd ausgestellt haben, was wir einkaufen müssen, wer Geburtstag hat. Bei Menschen, die sich ausreichend bewegen, sind diese Hirnareale nachweisbar größer. Ihr Kurz- und Ihr Langzeitgedächtnis profitieren davon.
Heißt, dass Sport nicht nur Muskeln, sondern auch das Gehirn wachsen lässt?
Macedonia: Ja. Ab dem 20. Lebensjahr schrumpft unsere Gehirnmasse um jährlich ein bis zwei Prozent. Sport verlangsamt den Vorgang und bringt viele andere spannende Prozesse in Gang, die unsere kognitiven Fähigkeiten schärfen.
Zum Beispiel?
Macedonia: Wir verlieren jeden Tag Millionen von Neuronen. Weil wir Umweltgiften ausgesetzt sind, schlecht schlafen, zu tief ins Glas schauen oder schlichtweg älter werden. Der Hippocampus – oder besser gesagt die Hippocampi, denn wir haben zwei von diesen seepferdchen–förmigen Strukturen – sorgt für Nachschub. Unser Gehirn braucht laufend neues Zellmaterial, um Reparaturen durchführen zu können. Der Hippocampus ist sozusagen der Kitt, mit dem unser Kopf Gedächtnislücken schließt. Bewegung bringt diese sogenannte Neurogenese in Schwung.
Psyche und Schlaf: Diese Vorteile bringt Sport
- Sport macht den Kopf frei: Und zwar wortwörtlich: Beim Sport wechseln bestimmte Hirnregionen vom aktiven in den entspannten Modus. In dem Moment wird das sogenannte Ruhezustandsnetzwerk aktiv. Wenn wir an nichts bewusst denken, kann unser Gehirn Prozesse zu Ende führen und Inhalte neu verbinden: So entstehen kreative Ideen.
- Sport schützt die Psyche: Depressive und schizophrene Episoden gehen mit erhöhten Kynurenin-Werten im Blut einher. Durch Bewegung wird ein Enzym gebildet, das die Aminnosäure Kynuronin verändert und sie für unser Gehim unschadlich macht. Anders ausgedrückt: Wer sich bewegt, behält eher die Nerven.
- Sport fördert den Schlaf: Kaum etwas setzt der Denkfähigkeit so zu wie Schlafmangel: Wenn sich das Gehirn nachts nicht regenerieren kann, degeneriert es im Eiltempo. Sport macht müde und verschafft dem Gehirn so die Auszeiten, die es benötigt, um tadellos funktionieren zu können.
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Erklärt das, warum sportliche Kinder durchschnittlich bessere Leistungen in der Schule erbringen?
Macedonia: Unter anderem. Sport kurbelt nämlich nicht nur die Neuro-, sondern auch die Angiogenese an, die Bildung neuer Blutgefäße. Um es ganz vereinfacht auszudrücken: Im trainierten Körper steckt meist ein besser durchblutetes, sauerstoffreicheres Gehirn. Aber natürlich gibt es auch unsportliche Kinder, die Einser nach Hause bringen. Und Sportskanonen, die mittelmäßige Schüler sind. Die Neurowissenschaft betrachtet immer nur den Durchschnittsmenschen. Und der hat, laut jüngsten Forschungsergebnissen, tatsächlich ein leistungsfähigeres Gehirn, wenn er regelmäßig den Hintern hochkriegt.
Gedächtnisforscherin: Dadurch sinkt das Risiko, Alzheimer zu bekommen
Also können wir uns mit Disziplin vor degenerativen Krankheiten schützen?
Macedonia: Wir können uns kein unverwüstliches Gehirn antrainieren. Aber das Risiko, an Alzheimer oder Demenz zu erkranken, einen Schlaganfall zu erleiden oder eine neuropsychiatrische Krankheit wie Multiple Sklerose zu entwickeln, sinkt mit jedem Schritt, den wir machen.
Und wie viel Sport ist nötig, damit wir geistig auf der Höhe bleiben?
Macedonia: Es reicht nicht, jeden Morgen 300 Meter zur Bushaltestelle zu laufen oder an zwei Tagen pro Woche die Einkäufe zu schleppen. Wenn ich von Bewegung spreche, meine ich regelmäßigen aeroben Ausdauersport. Am besten an der frischen Luft.
Aerob?
Macedonia: Das bedeutet mit genügend Sauerstoffzufuhr. Wer es übertreibt, japst nach Luft und trainiert im anaeroben Bereich. Das ist für Leistungssportler sinnvoll, aber nicht für Menschen, die ihrem Gehirn etwas Gutes tun wollen. Wer sich außerhalb der Komfortzone bewegt, aber dabei nicht schnaufen muss, macht es aus neurowissenschaftlicher Perspektive genau richtig.
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Sind alle Sportarten gleichermaßen geeignet?
Macedonia: Längst nicht alle Bewegungsmethoden sind dahingehend untersucht worden. Gehen, Walken, Joggen, Radfahren und Schwimmen haben einen nachweisbaren Effekt auf Gedächtnisleistung und Multitasking–Fähigkeiten, schweißtreibende Intervall–Sportarten dagegen nicht.
Und was ist mit Yoga?
Macedonia: Yoga macht nicht schlauer, aber entspannter. Das hat zwar keinen Einfluss auf die Neuro– oder Angiogenese, führt aber immerhin zum Abbau von Stresshormonen, die wahres Gift für unsere Gehirnzellen sind. Cortisol lässt den Hippocampus schneller schrumpfen, greift das Kurzzeitgedächtnis an und kann unsere Gene derartig verändern, dass wir anfälliger für Krebs und Depressionen sind. Übertrainierte Menschen haben übrigens auch oft mit einem erhöhten Cortisol–Level zu kämpfen. Deshalb die Empfehlung: moderat sporteln.
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Denksport für Faule: Drei Strategien für alle, die sich immer noch nicht aufraffen können
- Den Weg zum Ziel machen: Ihr Arbeitsplatz wäre theoretisch auch zu Fuß erreichbar? Oder zumindest mit dem Rad? Na also. So beiläufig (und regelmäßig) wie auf dem Weg zur Arbeit kann man Bewegung nicht in den Alltag integrieren.
- In einen Heimtrainer investieren: Nach Feierabend rückt die große Joggingrunde in weite Ferne. Einfacher zu überwinden: die paar Meter zum Heimtrainer. Wer auf dem Laufband oder Ergometer trainiert und dabei eine Doku schaut, boostet das Gehirn sogar doppelt so effektiv!
- Auf die Libido statt aufs Laufen setzen: Wenn Sie ein Fitness–, aber kein Sexmuffel sind, besteht Hoffnung: Auch im Bett lässt sich der Hippocampus erwiesenermaßen trainieren. Missionarsstellung? Geht tatsächlich als Denksport durch.
Ausreichend Bewegung wird sogar unter Psychologen als eindrucksvoller Stimmungsaufheller gehandelt. Wie hängen Neurochemie, Bewegung und gute Gefühle zusammen?
Macedonia: Um Glück und Gelassenheit überhaupt empfinden zu können, benötigen wir ausreichend Serotonin. Das wird von den sogenannten Raphé–Kernen auf dem Hirnstamm ausgeschüttet. Sport regt das Gehirn auch zur vermehrten Produktion von sogenanntem BDNF an, einem Nervenwachstumsfaktor, der wie Dünger für das Neuronenwachstum ist, auch und vor allem für das in den Raphé–Kernen. Heißt: mehr Sport, mehr Serotonin – und so mehr Zufriedenheit.
Gedächtnisforscherin: Diesen Preis bezahlen wir für Stillstand
Gehirnjogging-Programme versprechen das auch. Aber bei minimalerem Aufwand..
Macedonia: Es ist hinreichend belegt, dass Hirnjogging–Programme keinen Transfer–Effekt haben. Klar, wer übt, erzielt Trainingserfolge. Aber Gedächtnis, Multitasking, Entscheidungsfindung und andere kognitive Fähigkeiten verbessern sich dadurch definitiv nicht.
Und was ist mit Neuro–Enhancern, also Substanzen, die unsere geistige Leistung steigern sollen? Funktionieren sie?
Macedonia: Vielleicht, aber das macht sie nicht weniger katastrophal. Niemand weiß, welche Langzeitfolgen die Einnahme von diesen Substanzen hat – fest steht, dass sie das Gehirn für vorübergehende Effekte langfristig verändern. Das kann kein gesunder Mensch freiwillig in Kauf nehmen. Die unbequeme Wahrheit ist: Wer im Alter noch klar denken will, sollte spätestens ab 40 in die Puschen kommen. Stillstand bezahlen wir mit Verstand.
Als wir Manuela Macedonia interviewten, war sie gerade mit dem Fahrrad auf dem Weg von Oberösterreich ins Aostatal. Das sind rund 1000 Kilometer.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift „Donna“, die wie diese Redaktion zur FUNKE Mediengruppe gehört.