Berlin. Marlies K. lebt sechs Jahre lang mit Tinnitus. Nichts hilft ihr. Erst als sie auf eine spezielle Behandlung setzt, ändert sich alles.
Es piept, es rauscht, es klingelt: Marlies K. (Name von der Redaktion geändert) aus Wesel ist eine von vielen Betroffenen, die weiß, wie sich Tinnitus anfühlt und die Gesundheit belastet. Zehn Millionen Menschen in Deutschland müssen das Ohrgeräusch ständig aushalten, schätzt die Deutsche Tinnitus-Liga. Die 55-Jährige, verheiratet und Mutter von zwei Kindern, war oft verzweifelt und hatte schon die Hoffnung aufgegeben, dass es jemals besser wird. Doch heute sagt sie: „Mir geht es einfach nur gut.“
Ihre Geschichte ist die vieler Tinnitus-Patienten, die darüber berichten, dass dieses Piepen zu ihrem täglichen Begleiter wurde. Marlies K. (55) sagt, dass das Ohrgeräusch wie ein Teil von ihr war. „Sechs Jahre lang gehörte es zu mir. Morgens wie abends. Mal mehr, mal weniger.“
Wie kommt es zum Tinnitus oder Hörsturz? Mehrere Ursachen möglich
Wieso kommt es überhaupt zu einem Tinnitus oder Hörsturz, der dem Tinnitus oft vorausgeht? Lärm gilt als eine der Ursachen, so Experten. Denn Lärm könne die Sinneszellen der Hörschnecke im Innenohr schädigen. Aber auch Stress kann der Auslöser sein. Manchmal beides zusammen.
Lesen Sie auch: Was bei einem Zuckerentzug mit Ihrem Körper passiert
Vieles ist noch unbekannt beim Tinnitus (Ohrgeräusch). Oft geht er von alleine wieder weg. Mal ist das Geräusch auf einem Ohr, mal auf beiden Ohren. Wissenschaftler vermuten, dass fehlerhafte Verarbeitungsprozesse im Gehirn zur Wahrnehmung der Geräusche führen. Die Betroffenen aber interessiert vor allem eins: Wie werde ich das quälende Geräusch wieder los?
Tinnitus-Patientin Marlies K. erinnert sich noch genau an ihren ersten Hörsturz. „Es war auf der Arbeit. Auf einmal hatte ich dieses komische Gefühl auf dem rechten Ohr.“ Das Hören veränderte sich. Es habe sich auf einmal angefühlt, „als hätte ich eine Glocke“ auf dem rechten Ohr.
Klassische Therapie gegen Tinnitus schlug nicht an: Piepen und Rauschen blieb
Im Nachhinein ist ihr vieles klar geworden, sagt sie. Sie habe sich damals in einer extrem schwierigen Phase befunden. Vor allem privat. Immer wieder musste sie neue Schicksalsschläge verarbeiten. Geliebte Menschen, die plötzlich schwer erkrankt waren. Die Sorge war immer da und raubte ihr einen Großteil der Kraft.
- Studie: Forschende finden mögliche Ursache für Fettleibigkeit
- Untersuchungen: Stress erkennen – Diese Blutwerte sind alarmierend
- Gesunde Ernährung: Kind mag kein Gemüse? Ein Kinderarzt gibt Tipps
- Frauen: Endometriose-Betroffene geht radikalen Weg gegen Schmerzen
- Gewicht: Ärztin klärt auf – So kann Kaffee beim Abnehmen helfen
Anfang dieses Jahres dann wieder ein Hörsturz. Wieder sofort zum Ohrenarzt, wieder sofort Cortison-Therapie, der Klassiker. Zwei Wochen wurde sie krankgeschrieben. Die Ruhe tat ihr gut. Doch der Tinnitus verschwand nicht. Zwar hatte sich ihr Hörvermögen wieder stabilisiert, aber das Geräusch blieb. Das ständige Piepen und Rauschen war nicht nur nervig. „Es führte auch dazu, dass das Hören extrem anstrengend wurde.“
Marlies K. (55) fand es zudem enorm belastend, dass sie ihre Familie immer wieder daran erinnern musste, anders mit ihr umzugehen: „Sprecht bitte lauter.“ Immer wieder musste sie sie aufs Neue bitten: „Also, Ihr Lieben, sprecht doch bitte lauter.“ Keine böse Absicht, klar, aber ein Tinnitus ist ja nicht wie ein gebrochenes Bein.
Experte erkennt wichtige Verbindung zu einem Bereich des Gehirns
Privatdozent Matthias zu Schwarzburg-Nieschalk kann sich in die Lage der Betroffenen hineinversetzen. So viele Menschen vom Tinnitus betroffen sind, so wenig lassen sich die Beschwerden vereinheitlichen, sagt der Facharzt von der HNO-Uniklinik Münster.
Es habe auch damit zu tun, dass eine stark für das Gefühlsleben ausgeprägte Hirnregion involviert ist. „Die Hörbahn-Verbindungen haben einen Bezug zum limbischen System“, erklärt zu Schwarzburg-Nieschalk. „Dieses System ist auch für die Verarbeitung unserer Emotionen zuständig“, so der Arzt. Er führt aus: „Diese Verbindungen sind ganz unterschiedlich ausgeprägt, was auch erklärt, warum ein Teil der Patienten unter starkem, andere aber über wenig oder so gut wie keinem Leidensdruck stehen, selbst wenn die Messung objektiv kaum Einschränkungen bei der Hörfähigkeit aufweist.“
Worauf es ankommt beim Tinnitus: limbisches System und persönliche Stärke
Hinzu komme, dass die Resilienz des Menschen, also die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen zu meistern, sehr unterschiedlich sei. „Das bedeutet, dass auch manche Patienten sehr robust sind, viele andere leiden aber stark“, sagt zu Schwarzburg-Nieschalk. Und bei vielen führe er auch zu weiteren Folgen wie „Schlafstörungen, Neigung zur Depression, vermehrter Aggressivität oder sogar Burn-out. Das hängt ganz von der Persönlichkeit ab“, so der Arzt.
Auch interessant: Das passiert, wenn Sie jahrelang zu wenig schlafen
Weil sich der Tinnitus bei jedem anders deutlich macht, sollte die Therapie auch auf den Einzelnen angepasst werden. Wobei es mit der Therapie nicht wirklich einfach sei. Auch das Thema Cortison sieht der Arzt kritisch.
HNO-Facharzt sieht die herkömmliche Cortison-Gabe kritisch
„Bei einem Hörsturz, der ja häufig mit Tinnitus gekoppelt ist, wird klassisch mit Cortison therapiert. Häufig mit einer Hochdosis. Allerdings belegen aktuelle Studien, dass diese Hochdosis einer Niedrigdosis nicht überlegen ist“, sagt zu Schwarzburg-Nieschalk. Erstaunlicherweise komme es sogar häufig zu einer Spontanheilung. „Das weiß man aus den Erfahrungen der ehemaligen DDR. Dort gab es die Medikamente nicht in ausreichender Zahl, und die Heilungsrate war ähnlich hoch wie unter Cortison-Gabe.“
- ADHS bei Erwachsenen: Betroffene verrät, was ihr mit ADHS wirklich half
- Stress: Achtsamkeit – warum der Trend problematisch sein kann
- Vorsorge: MRT für Selbstzahler – wann es sinnvoll ist und wann nicht
- Ohrensausen: Tinnitus-Patientin berichtet, was ihr endlich geholfen hat
Eine hilfreiche Therapie zu mehr Gesundheit sei, so zu Schwarzburg-Nieschalk, den Tinnitus gewissermaßen auszutricksen: „Die Nervennetzwerke des Gehirns müssen so umtrainiert werden, dass sie lernen, mit dem Tinnitus umzugehen. Zum Beispiel mit Verhaltenstherapie und Counselling, was meint, Veränderungsprozesse innerhalb kurzer Zeit anzustoßen – begleitet auch von Entspannungstraining. Deshalb kann auch der Aufenthalt in einer auf Tinnitus spezialisierten Klinik mitunter sehr hilfreich sein.“
Tinnitus-Patientin erklärt, was ihr geholfen hat
Genau das hat Marlies K. getan. Sie suchte sich eine Spezialkurklinik in Bad Nauheim aus. Hier habe der Stressabbau im Vordergrund gestanden. Genau das, was sie brauchte: Sport, Entspannung, Gesprächstherapie, Ernährung, das ganze Programm, um die Akkus wieder aufzuladen.
Und man habe dort dank der speziellen Diagnosetechniken noch etwas ganz Entscheidendes festgesellt: Zwar hatte sich nach den Hörstürzen ihr Hörvermögen wieder annähernd normalisiert. „Aber was hier erkannt wurde, war eine Art Durchbruch: Ich hörte die ganz hohen Töne nicht mehr.“ Hilfe war in Sicht: ein Hörgerät.
Betroffene: Entscheidende Diagnose wurde in Spezialklinik gestellt
„Medikamente, die bei chronischem Tinnitus wirklich helfen, gibt es nicht, aber das Einsetzen von Hörgeräten kann enorm hilfreich sein“, sagt auch zu Schwarzburg-Nieschalk. Mit der modernen Technik könnten Hörverbesserungen erzielt werden, aber auch weitere Effekte: Es sei sogar erwiesen, „dass dadurch Hirnareale besser angeregt werden und sogar Demenz vorgebeugt werden soll“.
Das Wichtigste, was sie aus der Kur mitgenommen hat? Marlies K. sagt, dass sie gelernt habe, das Geräusch anders wahrzunehmen. Sport zum Beispiel helfe ihr noch immer dabei, den Ton herunterzudimmen, wenn er mal wieder nerven würde. Und sie hat gelernt, weniger aufs Smartphone zu gucken. Schließlich könne das ständige Draufschauen schon zu einer Art Sucht werden. Ganz wichtig aber war für sie diese Erfahrung: „Dass man mich endlich ernst genommen hat.“
Das könnte Sie auch interessieren: Mikrobiologin – „Diese Lebensmittel würde ich niemals essen!“