Berlin. „Wer fremdgeht, hat eine schlechte Beziehung“. Das ist zu einfach gedacht, meint ein Experte und erklärt die Psychologie des Seitensprungs.

Wissen ist Macht“, sagte einst der englische Philosoph Sir Francis Bacon und meinte damit, dass das Verstehen von Erfahrungen oft der Schlüssel zu wertvollen Erkenntnissen ist. Doch es gibt Themen, die für viele Menschen schwer zu verstehen sind, vor allem, wenn sie gesellschaftlich tabuisiert sind, wie die Untreue.

Trotzdem lohnt es sich, tiefer zu blicken, meint ein Paartherapeut: Nicht alle „Fremdgeher“ sind gefühllose oder rücksichtslose Bösewichte.

Auch interessant

Therapeut: Mit diesem Ereignis beginnen die meisten Seitensprünge

Fremdgehen ist oft ein schleichender Prozess, stellt der Berliner Paartherapeut und Kolumnist Dr. Clemens von Saldern fest. Die meisten Seitensprünge würden mit Alltagsgesprächen beginnen, die so intensiv werden, dass schließlich auch emotionale oder körperliche Nähe gesucht wird. Der Paartherapeut von Saldern, erklärt: „Die Entscheidung zum Fremdgehen ist fast immer eine Abwägung zwischen Belohnung und Bestrafung“.

Gerade wenn es in einer Beziehung kriselt oder der Reiz des Verliebtseins nachlässt, so von Saldern, überwiegt oft die Versuchung gegenüber der möglichen Bestrafung. Der Seitensprung werde dann zu einem attraktiven Versprechen, das stärker wirke als die drohenden Konsequenzen. Zudem übernehmen oft die Hormone die Kontrolle, was die Abwägung noch weiter zugunsten der Belohnung verschiebt. So gerät man immer tiefer in den Prozess des „Aus-dem-Ruder-Laufens“.

Welche Gefühle treiben Menschen zum Fremdgehen?

Einig sind sich die meisten Psychologen und Therapeuten auch darin, dass bewusste Muster des Fremdgehens bei den meisten Menschen aus persönlichen, oft sehr emotionalen Gründen entstehen. „Gefühle sind die Botschafter der Bedürfnisse“, erklärt der Paartherapeut Clemens von Saldern.

Ein starkes Motiv für Untreue sei die Sehnsucht nach Neuem. „Der Partner kann vieles sein – eine liebevolle Freundin, eine kinky Geliebte und die beste Mutter für die gemeinsamen Kinder – aber eines kann er oder sie nicht sein: neu“, betont von Saldern. Dabei übt das Neue eine starke Anziehungskraft aus und kann eine entscheidende Motivation für einen Seitensprung sein. „Das Neue bietet einen echten, wenn auch kleinen neurologischen Kick: einen Dopamin-Impuls, der als Wohlfühlbotenstoff eine positive Reaktion auslöst, wenn wir uns mit etwas Unbekanntem beschäftigen“, so von Saldern.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von einem externen Anbieter, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Ein weiteres Motiv, so der Experte, sei ein Nachholbedarf, der vor allem bei jungen Paaren ausgeprägt sei. Hier spiele die „Fear of Missing Out“ (FOMO) eine große Rolle – die Angst, nicht alles erlebt zu haben, verstärkt durch sozialen Druck und den Einfluss sozialer Medien. „Viele Jugendliche fragen sich: Habe ich genug erlebt? Und gehen aus diesem Gefühl heraus fremd“, erklärt von Saldern.

Auch Vergeltung kann ein starker Antrieb für Untreue sein. „Wenn man sich schlecht behandelt fühlt, sei es durch mangelnde Zuwendung oder fehlende Sexualität, entsteht oft ein unbewusstes Bedürfnis nach Rache“, erklärt von Saldern. Eine Affäre oder ein Seitensprung kann dann als Akt der Vergeltung dienen – das „Wie du mir, so ich dir“-Prinzip.

Doch der vielleicht stärkste Antrieb zum Fremdgehen ist das tiefe Bedürfnis nach Bestätigung. „In einer Affäre bekomme ich immer Bestätigung, da bin ich toll, da bekomme ich Aufmerksamkeit – das findet jeder attraktiv“, sagt von Saldern. Besonders wenn im Beziehungsalltag die Wertschätzung und Anerkennung des Partners fehlen und lebendige Gespräche und Erotik rar werden, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen fremdgehen. Laut Statista fallen 60 Prozent der Seitensprünge in diese Kategorie.

Berliner Paartherapeut Clemens von Saldern
Der Berliner Paartherapeut und Kolumnist Clemens von Saldern betreibt zusammen mit seiner Frau Nadja von Saldern eine Praxis für Mediation und Paartherapie in Berlin-Charlottenburg und Potsdam. © Detlef Eden | Detlef Eden

Gehen Menschen dann bewusst fremd?

Bereits in den 1990er Jahren führte der Psychologe Albert Bandura das Konzept des „moralischen Disengagements“ ein, um zu erklären, wie Menschen ihr Fehlverhalten rationalisieren, um ihre Selbstachtung zu bewahren. Diese Theorie wurde in jüngerer Zeit von Psychologen weiterentwickelt und unter dem Begriff „Self-Concept Maintenance“ bekannt, der ähnlich beschreibt, wie Menschen Täuschung und Betrug rechtfertigen, um ihr positives Selbstbild aufrechtzuerhalten.

Auch Paartherapeut von Saldern ist der Meinung, dass Menschen ihres Fremdgehens durchaus bewusst sind, dieses Bewusstsein jedoch oft verdrängen. Er spricht von einer „bewussten Unbewusstheit“, bei der das Bewusstsein und das Unterbewusstsein Hand in Hand arbeiten, um die unangenehmen Konsequenzen des Seitensprungs zu ignorieren.

Was sind die Motive notorischer Fremdgeher?

Wer einmal untreu war, wird es statistisch gesehen eher wieder tun. Eine Langzeitstudie der Universität Denver an 484 unverheirateten Paaren ergab, dass Personen, die bereits einmal untreu waren, dreimal häufiger erneut fremdgehen als Personen, die bisher treu geblieben sind. Doch was treibt diese „Wiederholungstäter“ dazu, immer wieder untreu zu werden?

Ein wesentlicher Faktor ist das Erfolgserlebnis, das ein Seitensprung oft mit sich bringt. Der Paartherapeut Clemens von Saldern erklärt: „Affären, neue Beziehungen oder One-Night-Stands bieten oft eine Flut an neuer Aufmerksamkeit und Bestätigung. Dieses Hochgefühl kann süchtig machen.“ Solange der Seitensprung unentdeckt bleibt, würden sich die Betroffenen sicher fühlen und keinen Grund sehen, ihr Verhalten zu ändern. Erst wenn der Seitensprung auffliege, seien die Betroffenen gezwungen, ihr Verhalten zu hinterfragen.

Ein weiterer treibender Faktor sei die Gelegenheit. „Wie das Sprichwort sagt: Gelegenheit macht Diebe“, erklärt von Saldern und fügt hinzu: „Die Versuchung entsteht oft durch günstige Gelegenheiten.“ Vor allem Menschen, die von anderen als attraktiv wahrgenommen werden, seien solchen Versuchungen häufiger ausgesetzt. „Wer wenig Angebote bekommt, wird auch seltener mit solchen Versuchungen konfrontiert. In gewisser Weise ist es also Segen und Fluch zugleich, attraktiv zu sein“, gibt der Paartherapeut zu bedenken.

Welche psychologischen Langzeitfolgen hat ein Seitensprung?

Die psychischen Folgen des Fremdgehens sind so vielfältig wie die Motive, die zu einem Seitensprung führen. „Menschen, die fremdgehen, geraten oft in einen inneren Konflikt, weil sie das Gefühl haben, mehr geben zu müssen, als sie eigentlich zu geben bereit sind – vor allem in Bezug auf sexuelle Erwartungen“, erklärt der Paartherapeut Clemens von Saldern. Plötzlich stehen sie vor der Herausforderung, die Bedürfnisse von zwei Menschen erfüllen zu müssen, was oft zu einer enormen emotionalen Belastung führt. Zudem seien viele von der Komplexität der damit verbundenen Lügen und Täuschungen überfordert. Dies führe, so der Experte, häufig zu Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen, was nicht selten beide Beziehungen destabilisiere.

Aber auch für diejenigen, die bewusst auf einen Seitensprung verzichten, bleibt oft die Frage, ob sie etwas verpasst haben – vielleicht die große Liebe oder den Seelenverwandten? „Verzicht ist auch ein Preis, den man zahlen muss“, betont von Saldern. Er rät, bei sexuell motivierter Suche zunächst zu prüfen, ob sich die Sexualität in der bestehenden Partnerschaft weiterentwickeln lässt.

Dabei könne es helfen, bisher unausgesprochene Bedürfnisse offen anzusprechen und gemeinsam an der Beziehung zu arbeiten. „Wenn Paare im Gespräch bleiben und als „Komplizen“ gemeinsam an der Befriedigung ihrer Bedürfnisse arbeiten, entsteht ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und niemand fühlt sich ausgeschlossen“, fasst der Paartherapeut zusammen.