Münster. Plötzlich braucht das Militär viel mehr Menschen, die freiwillig unsere Heimat schützen. Ingo (51) ist einer davon. Ein Blick hinter die Kulissen
- Mitten in Europa herrscht Krieg, und die Bundeswehr steht vor der Frage, wie NRW im Fall der Fälle überhaupt verteidigt werden kann.
- Gefragt sind Menschen aus NRW, die das Militär freiwillig unterstützen.
- Aber was macht man als sogenannter Heimatschützer – und was treibt diese Freiwilligen an?
In NRW geht am Donnerstag das erste Heimatschutzregiment an den Start. Die bunte Truppe besteht vor allem aus Freiwilligen, von denen einige nie zuvor beim Militär waren.
Die Zeitenwende macht vor Pilzsammlern, Naturfreunden und Wanderern nicht Halt: Ein Waldstück in Münster-Handorf wurde jüngst zum „Militärischen Sicherheitsbereich“ hochgestuft. Wer aus alter Gewohnheit seine Schritte in diesen Forst lenkt, stößt jetzt auf Uniformierte, die höflich, mitunter auch laut, „Stopp“ sagen.
Heimatschutz in NRW: Mitten im Wald wird geschossen, marschiert und kontrolliert
Die Zeiten sind auch in der westfälischen Provinz nicht mehr so friedlich, wie sie lange waren. Auf dem Übungsgelände in Handorf pflegten Zivilisten und Soldaten bisher ein entspanntes Miteinander. Nun aber – da ein Krieg in Europa wütet und die Bundeswehr ungewohnt ernsthaft vor der Frage steht, ob sie die Heimat im Fall der Fälle überhaupt verteidigen könnte – wird in dem Wald bei Münster öfter geschossen, mehr marschiert, intensiver kontrolliert. Die Militarisierung ihrer Umgebung verstört einige Anwohnerinnen und Anwohner.
Zwei Dutzend Herren in Kampfanzügen stehen neben einer matschigen Straße, von Laubbäumen umrahmt. Die Luft ist herbstlich kühl, Blätter rieseln auf Helme, der Schweiß der Soldaten lockt Mücken an. Es ist eine bunt zusammengewürfelte Truppe in flecktarn-oliv: Junge und Ältere, Handwerker und Studierte, Gefreite, Unteroffiziere, Offiziere. Frauen in Uniform sind an diesem Tag nicht zu sehen. Der Heimatschutz ist überwiegend männlich.
450 Reservisten bisher im Heimatschutz NRW: Ingo M. ist einer davon
Die Gruppe gehört zum „Heimatschutzregiment 2“, das am Donnerstag offiziell „in Dienst gestellt wird“. Dann wird Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) reden, ein Fahnenband verliehen und Musik gespielt. Ingo M. aus Westerkappeln und Meinhard S. aus Dortmund – zwei von derzeit rund 450 Reservisten im Heimatschutz NRW— denken noch nicht ans Feiern. Sie konzentrieren sich auf die „Checkpoint“-Ausbildung: Das ist die militärische Spielart des „Durchgang verboten“, mit Waffe, Stacheldrahtrolle, Warnkelle und Spiegel fürs Inspizieren von Fahrzeugböden.
„Kann ich das noch?“, hat sich Ingo in den Tagen, bevor er die Uniform anzog, oft gefragt. – Der Obergefreite ist schon 51, sein Bart wird grauer, und die Übung mit dem Namen „Agiles Ross“ auf dem Standortübungsplatz in Handorf ist Ingos erste seit 30 Jahren. Er war in den 1990ern Wehrpflichtiger bei der Marine in Glückstadt, lebte dann ein Leben fernab vom Militär. Er wurde Geologe, beschäftigt sich mit Altlasten-Sanierung und Baugrundanalysen. Und dann kam Putin.
Bundeswehr nach Sparkurs in der Krise: Freiwillige müssen schnell ausgebildet werden
Fragt man jene, die sich zu Heimatschützern ausbilden lassen, nach ihren Motiven, wird fast immer Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine genannt. „Wir müssen der Bedrohung etwas entgegensetzen“, meint Ingo. „Es kann doch nicht sein, dass da keiner ist, der das Land verteidigt“, sagt er.
Hinter diesem Satz steckt eine bittere Erkenntnis über den Zustand der Bundeswehr nach langem Sparkurs. Mit dem heutigen Personal ließe sich NRW kaum gegen eine militärische Bedrohung schützen, erzählen Offiziere hinter vorgehaltener Hand.
Auf die Schnelle müssten nun Freiwillige ausgebildet werden, die die Lücken schließen, wenn Berufssoldaten an eine Front geschickt würden. Sie müssten dann zum Bespiel Flughäfen, Kraftwerke und wichtige Straßen in NRW sichern. Auch in friedlichen Zeiten seien Heimatschützer wichtig, heißt es: In Notfällen, zum Beispiel nach einem Hochwasser, könnten sie Katastrophenhilfe leisten.
Militär: Bisher 800 Bewerbungen für den Heimatschutz in NRW
Einige dieser Freiwilligen sind erst knapp über 20, der Älteste schon 60. Wer nie zuvor beim Militär war, bekommt zunächst eine Kurz-Grundausbildung. Das Interesse am Heimatschutz scheint überraschend groß zu sein. Nachdem der damalige Kommandeur des Landeskommandos NRW, Brigadegeneral Dieter Meyerhoff, Mitte Juli im Landtag über das neue Regiment informierte, erreichten die Bundeswehr rund 800 Bewerbungen. „Diesen Berg konnten wir noch gar nicht ganz abarbeiten“, berichtet Oberstleutnant Ulrich Fonrobert.
Meinhard ist 38 Jahre und Oberleutnant der Reserve, also Offizier. Im zivilen Leben verdient der Ingenieur sein Geld als selbstständiger Messtechniker, seine Verbindung zur Bundeswehr riss aber, im Gegensatz zu Ingo, nie ab. Der Krieg im Osten beschäftigt ihn sehr. „Meine Freundin stammt aus der Ukraine. Wir kennen viel Einzelschicksale dort“, erklärt er. Die Zeitenwende verändere die Sicht aufs Militär, glaubt Meinhard. Auf einmal seien nicht mehr nur die „Top-1000-Soldaten“ wichtig, auch die Bedeutung der Reserve nehme zu.
Ingo aus Westerkappeln freut sich, dass die Ausrüstung nicht mehr so rustikal ist wie vor 30 Jahren. Das Gewehr sei moderner, der Helm leichter, die Kleidung bequemer. Dennoch sei Heimatschutz schmerzhaft: „Wenn du den ganzen Tag auf den Beinen bist und noch Gepäck trägst, dann qualmen abends die Füße.“
Heimatschutz: Wie funktioniert das und wer kann sich dafür bewerben?
In Deutschland werden sechs Heimatschutzregimenter aufgebaut mit insgesamt rund 6000 Soldaten, darunter vor allem Reservisten. Das Regiment in Bayern ging schon 2019 an den Start, in diesem Jahr folgen NRW und Niedersachsen, später stoßen Regimenter in Thüringen, Schleswig-Holstein und Berlin/Brandenburg dazu.
In NRW bilden drei Heimatschutzkompanien den Kern des Regiments: im Rheinland, in Westfalen und im Ruhrgebiet. Gesucht werden auch Frauen und Männer, die nie beim Militär waren. Informationen zur Bewerbung gibt es hier.
Die Teilnahme an der Ausbildung und an Übungen ist freiwillig. Etwa 25 Dienst-Tage im Jahr seien ideal, heißt es. Arbeitgeber sind allerdings nicht verpflichtet, Mitarbeitende freizustellen. Es komme daher vor, dass die Übenden Urlaub für den Heimatschutz opferten.
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