Dortmund. Der 16-jährige Mouhamed Dramé wurde vor einem Jahr in Dortmund Opfer eines Polizeieinsatzes. Erste Konsequenzen wurden in NRW gezogen.
Vor einem Jahr endete ein Polizeieinsatz in Dortmund mit tödlichen Schüssen auf einen 16-Jährigen. Mehrere Veranstaltungen erinnern in dieser Woche an das Geschehen, und die politischen Nachwirkungen des Falls sind erheblich.
Was geschah am 8. August 2022?
Der 16-jährige Mouhamed Dramé, ein unbegleiteter Flüchtling aus dem Senegal, wird Opfer eines tödlichen Polizeieinsatzes. Der Jugendliche hatte sich am Tag zuvor in die Polizeiwache in der Nordstadt begeben und Suizidabsichten geäußert. Er wurde in einer Klinik psychiatrisch untersucht und später in seine Wohneinrichtung gebracht.
In dieser Einrichtung zieht er sich am 8. August mit einem Messer in eine Ecke des Hinterhofs zurück. Auf Ansprachen reagiert er nicht, Betreuer rufen die Polizei. Elf Polizistinnen und Polizisten erscheinen vor Ort. Sie setzen zunächst Pfefferspray, dann Elektroschockgeräte (Taser) ein. Ein Beamter feuert sechsmal mit einer Maschinenpistole auf den Jugendlichen. Vier Projektile treffen Mouhamed Dramé. Nach und nach stellt sich heraus, dass die Polizei wohl die Lage ohne Not selbst eskalierte, anstatt dem Verzweifelten zu helfen.
Ein halbes Jahr danach erhebt die Staatsanwaltschaft Dortmund Anklage gegen fünf der Beamten. Die Polizisten, die Taser und Reizgas einsetzten, werden der „gefährlichen Körperverletzung im Amt“ beschuldigt, der Einsatzleiter der Anstiftung zur Körperverletzung, dem MP-Schützen wird Totschlag vorgeworfen. Wann der Prozess beginnt, ist offen.
Wie stark wirkt der Fall nach?
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Sehr. Am Dienstag versammelten sich Frauen und Männer in der Nordstadt zu einer Mahnwache. Für Samstag ruft ein „Solidaritätskreis Justice4Mouhamed“ zu einer Demo in Dortmund auf. Das Motto: „Es gibt 1000 Mouhameds“.
Der WDR zitierte am Dienstag Sidy Dramé, den Bruder von Mouhamed Dramé, der zum Prozessauftakt vom Senegal nach Dortmund reisen möchte: "Hier werden wir Mouhamed niemals vergessen. Seit dem Tag, an dem er gestorben ist, reden wir von morgens bis abends über ihn.“
„Ich kann nur hoffen, dass dieser schreckliche Fall ein Umdenken bewirkt. In Dortmund ist auch schon viel in Gang gesetzt worden, um Polizeigewalt zu vermeiden. Dennoch würde ich sagen, dass die Angst vieler Menschen vor Polizeigewalt im vergangenen Jahr eher noch zugenommen hat“, sagte Hartmut Anders-Hoepgen, Leiter der Dortmunder Beratungsstelle „Back up e.V.“ für Opfer von rechter und rassistischer Gewalt, dieser Redaktion.
Welche politischen Wellen schlägt der Fall?
Er hat eine Diskussion über Polizeigewalt ausgelöst. Anwohner aus der Nordstadt, Bürgerrechtler, aber auch Wissenschaftler wie der Bochumer Rassismus-Forscher Prof. Karim Fereidooni behaupten, Rassismus spiele eine Rolle bei der täglichen Polizeiarbeit.
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) stellte sich nicht ohne Wenn und Aber vor die Beschuldigten. Er sagte im August 2022: „Wenn Polizisten Fehler gemacht haben sollten, werden sie dafür selbstverständlich auch die strafrechtlichen oder disziplinarrechtlich Konsequenzen tragen müssen."
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Die in NRW zusammen mit der CDU regierenden Grünen taten sich zunächst schwer mit dem Fall. Ihre Fraktionsspitze im Landtag unterstrich zunächst ihr Vertrauen in die Ermittlungen durch Justiz und Polizei. Die Parteiführung in NRW sowie die Grüne Jugend riefen lauter nach Aufklärung und Konsequenzen.
Die beiden Beratungsstellen in NRW für die Opfer von rechter und rassistischer Gewalt, „Back up“ und „Opferberatung Rheinland“, ordnen die Polizeischüsse als „Verdachtsfall mutmaßlich rassistisch motivierter tödlicher Polizeigewalt“ ein. 2022 habe es in NRW noch sechs weitere Verdachtsfälle gegeben. „Back up“-Leiter Hartmut Anders-Hoepgen warnt: „Wir dürfen uns nicht mit Behauptungen zufriedengeben, die Polizei sei bei Rassismus ein Abbild der Gesellschaft. Von einer Polizei müssen wir mehr erwarten: In ihr dürfen ausschließlich Frauen und Männer arbeiten, die demokratisch gefestigt sind.“
Welche Lehren wurden gezogen?
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) führte eine Tragepflicht für Körperkameras (Bodycams) im Wachdienst ein, allerdings nicht, wie von manchen Experten gefordert, eine Einschaltpflicht. Das Land verordnet Polizistinnen und Polizisten im Wachdienst zwei zusätzliche Trainingstage pro Jahr. Dort soll es zum Beispiel um den Umgang mit Migranten gehen und um die Kommunikation mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen. Angehende Polizistinnen und Polizisten sollen für das Thema Rassismus sensibilisiert werden.
Rassismus-Forscher Prof. Karim Fereidooni erkennt ein Jahr nach den Schüssen Fortschritte im Umgang mit dem Thema Polizeigewalt. „Fünf Polizeibeamte wurden angeklagt, bald beginnt der Prozess gegen sie. Das ist ein Novum. Andere Fälle führten in der Vergangenheit nicht zu Anklagen“, sagt er. Die Polizei, insbesondere die in Dortmund, sowie das NRW-Innenministerium seien sensibler geworden bei Polizeigewalt.
Dass Polizistinnen und Polizisten nun für den Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen geschult werden, ist laut Fereidooni wichtig, denn bei drei von vier Todesopfern nach Polizeieinsätzen spiele eine psychische Erkrankung eine Rolle.
Das reiche aber bei noch nicht. Der Professor fordert regelmäßige Studien zu Rassismus bei der Polizei. Beamte, die Zeugen von rassistisch motivierten Straftaten sind, dürften nach einer Aussage gegen Kollegen keine Nachteile erleiden. Wichtig wäre auch die Einführung von „Kontroll-Quittungen“, ausgestellt durch Polizisten. „Damit könnte überprüft werden, ob Menschen, die nicht als weiß-deutsch wahrgenommen werden, häufiger kontrolliert werden als andere."
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