Qamischlo. Die Menschen in Syrien feiern den Sturz des Assad-Regimes, aller Ungewissheit zum Trotz. Jan Jessen ist vor Ort. Sein Erfahrungsbericht.
Von der Statue ist nur noch das Metallskelett geblieben. Auf dem Podest, von dem aus bis Sonntagmorgen Hafiz Aziz stolz und herrisch herunterblickte, stehen jetzt Kinder und lachen. Davor machen Menschen, junge und alte, Videos mit ihren Telefonen. Sie winken den Autos zu, die dicht an dicht durch den Kreisverkehr im Südwesten von Qamischlo kriechen. Aus den Fenstern flattern gelbe Fahnen, die Insassen recken ihre Hände mit Siegeszeichen durch die Fenster. Es ist ein Höllenlärm. Ein Hupkonzert, immer wieder hallen Schüsse auf; es ist Freudenfeuer. Die Menschen in der Stadt im Nordosten Syriens feiern das Ende einer Gewaltherrschaft, unter der auch sie gelitten haben.
Erst wenige Stunden zuvor erreicht mich in Dohuk im Norden des Iraks die Nachricht, dass Baschar al-Assad Syrien fluchtartig verlassen hat und sein Regime kollabiert ist. Es war ein Zusammenbruch in einer Geschwindigkeit, wie sie niemand vorausehen konnte.
Noch halten die Versprechen der Aufständischen
In den Tagen davor hatte ich Kontakte zu Christen in Homs und Aleppo, Großstädte, die von den islamistischen Aufständischen der Haiat Tahrir as-Scham (HTS) handstreichartig eingenommen wurden. Sie waren in banger Erwartung, was die Zukunft für sie bereithalten werde. Noch scheinen die Versprechen der HTS zu halten, nicht gewaltsam gegen Minderheiten vorzugehen.
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Die mit der Türkei verbündeten Milizen der Syrischen Nationalarmee (SNA) sollen hingegen bei ihrem Vormarsch auf bislang von kurdischen Kräften gehaltene Gebiete nördlich von Aleppo Verbrechen begangen haben. Zehntausende sind aus der Gegend bereits geflohen, unter ihnen viele Menschen, die bereits beim türkischen Angriffskrieg gegen den kurdischen Kanton Afrin im Nordwesten des Landes Anfang 2018 zu Flüchtlingen geworden waren.
Es sollen Schüsse auf die Flüchtlingstrecks gefallen sein, von vielen ermordeten ist die Rede. Wer durchgekommen ist, flüchtete nach Tabqa und Rakka. Die Städte stehen unter der Kontrolle der kurdisch dominierten Demokratischen Streitkräfte Syriens (SDF). Dorthin will ich reisen.
Nicht überall ist der Umbruch spürbar
An der irakisch-syrischen Grenze ist es am Sonntagmorgen nicht so voll wie gewöhnlich. Manche Menschen haben einen blauen Pass dabei, der sie als in Deutschland lebende Flüchtlinge ausweist. Reden wollen sie nicht. Sie wirken angespannt. Die Grenzkontrolle verläuft zügiger als üblich.
Auf der zweistündigen Fahrt von der Grenze bis nach Qamischlo, dem administrativen Zentrum der selbstverwalteten Region Nordostsyrien, ist wenig von den revolutionären Umbrüchen und dem historischen Ereignis spür- und sichtbar, das gerade weltweit Schlagzeilen macht. In den ärmlichen Dörfern und Städten scheint das Leben seinen gewohnten Gang zu gehen. Vor Straßencafés sitzen alte Männer und unterhalten sich, die Ladenlokale sind geöffnet, Bauarbeiter riskieren ihr Leben auf gewagten Holzkonstruktionen, auf den kargen Feldern sind die Schafhirten mit ihren Herden.
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Das Bild ändert sich in Qamischlo. Meine Begleiter zeigen mir Videos, auf denen zu sehen ist, wie jubelnde Menschen die Statue von Hafiz Assad vom Sockel reißen. Das Ende seines Sohnes Baschar bedeutet das Ende einer 50-jährigen Gewaltherrschaft, unter der auch die Kurden gelitten haben. Seit dem Beginn des Krieges in Syrien vor 13 Jahren konnten sie sich vom Regime emanzipieren und im Norden des Landes mit säkularen Arabern und Christen ein quasi-autonomes Gebiet aufbauen.
„Endlich sind wir frei“
Mit dem Regime, dessen Soldaten in Qamischlo während der vergangenen Jahre den Flughafen und kleinere Teile der Stadt halten konnten, gab es eine Art Stillhalte-Abkommen. Die Bilder des Diktators nahe der von seinen Soldaten gehaltenen Gebiete und die Statue seines Vaters waren aber immer eine drohende Mahnung. Baschar al-Assad hat immer wieder deutlich gemacht, er werde es auf Dauer nicht dulden, dass ein Teil Syriens nicht unter seiner vollen Kontrolle ist.
Jetzt ist der Diktator fort und mit ihm die Angst – vorerst. Das ist auf den Straßen unübersehbar. Aus den Autos jubeln sich Menschen gegenseitig zu, sie hupen unentwegt, schwenken ihre gelben Fahnen. Junge Männer feuern mit ihren Sturmgewehren Salven ab. Ältere Menschen stehen am Straßenrand, umarmen sich, lachen. Es herrscht eine fröhliche und ausgelassene Stimmung.
Ab und an sehe ich die rote Fahne der kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) auf Autos befestigt. Für die Türkei ist das selbstverwaltete Gebiet in Nordostsyrien, dessen Demokratischen Streitkräfte als engster Partner des Westens die Terroristen des Islamischen Staates bekämpften und noch heute bekämpfen, ein Projekt eben dieser PKK, die Ankara so wie Berlin als Terrororganisation bezeichnet. Immer wieder wird die Region deswegen von türkischen Streitkräften und ihren islamistischen Verbündeten attackiert. Ankara will die Selbstverwaltungsstrukturen vernichten.
Ob tatsächlich mit dem Sturz Assads eine friedliche Zukunft in der Region anbricht, ist deswegen ungewiss, das ahnen alle Menschen, mit denen ich in Qamischlo spreche. An diesem Tag aber feiern sie das Ende der Gewaltherrschaft. „Es ist so gut, dass er fort ist. Er so vielen Menschen Leid angetan“, sagt eine ältere Frau mit Tränen in den Augen. „Endlich sind wir frei.“
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