Berlin. Es sind unsägliche Zeiten für jüdische Menschen. Viele geben sich nicht zu erkennen, tasten sich durch den Alltag, fürchten um ihre Kinder.
- Ein Jahr nach dem Hamas-Massaker haben Juden in Deutschland mit massiven Anfeindungen zu kämpfen
- Jüdische Eltern haben Angst um ihre Kinder, Studierende werden zur Zielscheibe
- Ein Antisemitismus-Beauftragter sagt: Es ist ein einziger Albtraum
Wenn Lilli zum Hebräischkurs geht, schwingt die Nervosität immer ein bisschen mit. Zumindest bei ihren Eltern. Seit dreieinhalb Jahren lernt die Drittklässlerin einmal die Woche in Berlin-Mitte die Muttersprache ihres Vaters. Doch spätestens seit dem 7. Oktober 2023, seit dem beispiellosen Massaker der Hamas gegen Israel, ist die Bedrohung der Familie ganz nahegekommen. „Elf Tage später gab es einen Brandanschlag auf das jüdische Gemeindehaus, gleich nebenan“, erinnert sich Lillis Mutter Marina Schmidt (alle Namen geändert). Wo vorher schon immer Polizisten standen, waren es plötzlich viel mehr. Die Türen zum jüdischen Kulturzentrum im Hinterhof waren plötzlich fünffach verriegelt und von einer Kamera überwacht. Die achtjährige Lilli und ihr kleiner Bruder Luis (4) stellten Fragen. Warum? Wieso? Hat das etwas mit uns zu tun?
Nein, sagten die Eltern und sprachen von Brandanschlägen und Hass, den es nun mal überall gebe. Dass es um ihre jüdische Identität ging, das sollten die Kinder noch nicht erfahren.
Jüdische Familie: Diese Vorkehrungen treffen sie zum Schutz
„Mir hat das Angst gemacht“, sagt Marina Schmidt. „Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen soll, dass meinen Kindern indirekt Hass entgegengebracht wird.“ Für sie selbst, eine Christin, ist es neu, mit Antisemitismus konfrontiert zu sein. Für ihren Mann Adam nicht – er ist in Israel geboren und mit der Gefahr aufgewachsen, musste mit elf Jahren mit Gasmaske zur Schule gehen, so sehr fürchteten seine Eltern damals Giftgasanschläge. Umso mehr sagt er heute: Wir wollen uns nicht verstecken. Auf der Straße spricht er mit Lilli und Luis Hebräisch. Seine Frau erinnert sich, dass sie kurz nach dem Hamas-Massaker vereinbart hätten, darauf zu verzichten. Ganz einig ist sich das Paar in der Rückschau nicht – Adam sagt, diese Abmachung habe es nicht gegeben.
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Und doch treffen sie ihre eigenen, persönlichen Vorkehrungen, schon lange vor dem 7. Oktober, fast schon instinktiv. Zu Chanukka steht bei ihnen nie der neunarmige Leuchter im Fenster. Die Mesusa, die jüdische Schriftrolle, hängt nicht an der Haustür, sondern im Flur im Innern des Hauses. Auf Dienstreisen achtet Adam Schmidt schon seit Jahren darauf, im Taxi nicht Hebräisch zu sprechen. „Das war schon immer so“, sagt seine Frau. Es klingt ein bisschen resigniert.
Antisemitismus: Seit dem Hamas-Überfall „ein einziger Albtraum“
Es gibt jemanden, der wie ein Seismograf für die Stimmungen der Jüdinnen und Juden in Berlin ist: Sigmount A. Königsberg ist der Antisemitismusbeauftragte der jüdischen Gemeinde. Wer ihn in diesen Tagen ans Telefon bekommt, hört ihn immer wieder tief seufzen, bevor er auf eine Frage antwortet. Er sagt: „Früher, bis vor ein paar Jahren, war das mal so, dass wir geschaut haben, wo unsere Koffer stehen.“ Das habe sich drastisch geändert: „Jetzt stehen sie schon bereit.“ Er weiß von mehreren Gemeindemitgliedern, die Deutschland vor kurzer Zeit verlassen haben. „Sie sahen für sich und vor allem für ihre Kinder hier keine Sicherheit.“ Und das lässt sich ganz klar begründen, wie Königsberg zusammenfasst: Keine Veranstaltung in Deutschland, die das Etikett „Jüdisch“ trage, komme heute noch ohne Polizeischutz aus. Jüdische Geschäfte würden boykottiert, jüdische Restaurants müssten schließen – „auch weil sie ständig angegriffen werden“. Seit dem Hamas-Überfall sei es „ein einziger Albtraum“.
Die Zahlen geben ihm recht. 42 Prozent der Gemeinden hätten dieses Jahr antisemitische Vorfälle wie Schmierereien, Drohanrufe oder Beleidigungen festgestellt, geht aus einer Umfrage des Zentralrats der Juden von August und September hervor. Den Angaben zufolge beteiligten sich Führungspersonen von 98 der 105 Gemeinden.
82 Prozent gaben demnach an, es sei unsicherer geworden, in Deutschland als Jüdin oder Jude zu leben und sich so zu zeigen. Im Vergleich zur vorherigen Umfrage des Zentralrats Ende 2023 stieg dieser Wert um vier Prozentpunkte. „Personell, emotional und organisatorisch sind die Gemeinden am Limit“, berichtet der Zentralrat.
So will der Bundesjustizminister Antisemitismus bekämpfen
Dem will Bundesjustizminister Marco Buschmann entschieden entgegenwirken. Er rief die Sicherheitsbehörden und die Justiz dazu auf, alle rechtsstaatlichen Mittel konsequent auszuschöpfen: „Die notwendigen Instrumente im Strafrecht und Versammlungsrecht haben wir“, sagte der FDP-Politiker dieser Redaktion. „Ich ermutige alle zuständigen Stellen, dass diese Instrumente konsequent genutzt werden, um aufkommende antisemitische Kriminalität zu bekämpfen.“
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Doch manchmal ist der Übergang zur strafbaren Handlung schleichend. Häufig beginnt es damit, jüdische Menschen in ihrem Umfeld zu mobben und auszuschließen. Früher, so berichtet es der Wahl-Berliner Yoav Engelmann (39), sei seine jüdische Identität niemandem aufgefallen. Heute müsse Engelmann, der eigentlich anders heißt, immer abwägen, ob er sich seinem Gesprächspartner „outen“ könne. „Es kann vorkommen, dass die Person aggressiv reagiert.“ Nach Demonstrationen sei die Stimmung oft besonders bedrohlich – Engelmann vermeidet solche Orte. Er sei viel vorsichtiger geworden, meide in Berlin-Neukölln Blickkontakt mit Fremden. Bloß nicht auffallen. Bloß nicht den Hass auf sich ziehen.
Antisemitische Angriffe an Universitäten: „Wer beschützt uns noch?“
Von dieser Verschiebung, davon, sich durch den Alltag zu tasten, kann auch Emilia Taran erzählen. Sie ist Vizepräsidentin des Jüdischen Studierendenverbandes Rheinland-Pfalz und Saarland. Einige der größten Pro-Palästina-Aktionen fanden an Universitäten statt. Auch in Mainz, wo Taran studiert, gibt es diese Demonstrationen, auch auf dem Campus. Wenn sie daran vorbeigeht, achtet sie darauf, dass sie keine sichtbaren jüdischen Symbole trägt – aus Angst.
Immer wieder müsse sie Diskussionen führen, mit Menschen, die die Hamas relativieren. Auch die Angriffe auf Social Media hätten zugenommen. Häufig schreiben Menschen, sie sei „Zionistin“, daher könne man mit ihr nicht reden.
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Sie erzählt von jüdischen Studierenden, die aufgrund ihrer Religion angegriffen wurden. Auf dem Campus, von Kommilitonen. „Ich fühle mich im Stich gelassen“, sagt die junge Frau. „Wer beschützt uns noch, wenn selbst Bildungseinrichtungen so etwas erlauben?“ Sie wünscht sich Unterstützung, von außen und von der Universitätsleitung. „Ich möchte eine klare Kante und ich wünsche mir, dass mehr Leute aufstehen.“
Doch genau das lassen viele Hochschulen und Universitäten bei diesem Thema vermissen. Sie verweisen auf Wissenschafts- und Meinungsfreiheit – und greifen nicht ein, wenn wochenlang Pro-Palästina-Camps auf dem Uni-Gelände abgehalten werden, wenn sich eine feindselige Atmosphäre aufbaut. „Yallah“-Rufe, Plakate mit „Free Palestine“-Sprüchen, Beschimpfungen von Israelis – all das führt dazu, dass jüdische Studierende nicht mehr unbeschwert in ihre Seminare gehen.
Darüber beklagt sich auch Tarans Kollegin Jana Kelerman vom Jüdischen Studierendenbund Baden. Ein jüdischer Erstsemester-Student habe in Freiburg nach dem 7. Oktober in einer größeren Studi-Versammlung davon berichtet, wie es ihm auf dem Campus ergehe. „Der ist einfach ausgelacht worden“, sagt Kelerman.
Es sind Erzählungen wie diese und die Nachrichten im Allgemeinen, die auch Lillis Mutter Marina Schmidt an ihre Grenzen bringen. „Ich habe generell Angst“, sagt sie, „dass wir hier in 20 Jahren nicht mehr so leben können, wie wir es gewohnt sind“.
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