Moskau. Für die Ukraine läuft es derzeit nicht besonders gut. Deshalb spürt der Kreml Rückenwind – und will an ein altes Papier anknüpfen.

Die Rede von Russlands Präsident Wladimir Putin beim Östlichen Wirtschaftsforum in Wladiwostok ließ aufhorchen: „Wenn es den Wunsch nach Verhandlungen gibt, werden wir uns nicht verweigern“, sagte Putin. Kurz zuvor hatte Putins Sprecher Dmitri Peskow noch das Gegenteil verkündet. Friedensgespräche mit der Ukraine seien derzeit nicht angebracht. Die Voraussetzungen dafür seien nicht gegeben, zitiert die Nachrichtenagentur RIA Nowosti Peskow. Russland werde seinen Militäreinsatz in der Ukraine fortsetzen, bis alle Ziele erreicht seien. Der Einmarsch Kiews in die westrussische Region Kursk mache Verhandlungen unmöglich.

Nun also doch die Bereitschaft zu verhandeln. „Unsere Streitkräfte haben die Lage stabilisiert“, sagt Putin jetzt zu Kursk. Er sei zu Friedensverhandlungen durchaus bereit: „Wir haben dies nie abgelehnt, aber nicht auf der Grundlage einiger kurzlebiger Forderungen, sondern auf der Grundlage der in Istanbul vereinbarten und tatsächlich paraphierten Dokumente“, so Putin in Wladiwostok.

Frühe Verhandlungen in Istanbul: Schilderungen über Ergebnisse gehen auseinander

Kurz nach Kriegsbeginn verhandelten in Istanbul russische und ukrainische Unterhändler über einen möglichen Weg zum Frieden. Die „Welt am Sonntag“ veröffentlichte das 17-seitige Papier. Es basiert auf Verhandlungen, die am 29. März 2022 stattfanden. Kiew war demnach mit einer „dauerhaften Neutralität“ einverstanden. Das Land würde blockfrei bleiben und auf die Entwicklung von Atomwaffen verzichten. Dafür müsste es internationale Sicherheitsgarantien geben. Mögliche Garantiestaaten wären Russland, Großbritannien, China, die USA, Frankreich, die Türkei, Deutschland, Kanada, Italien, Polen und Israel.

Auf einen Zeitraum von 15 Jahren sollte der Konflikt um die annektierte Halbinsel Krim „eingefroren“ werden und in direkten Gesprächen zwischen Russland und der Ukraine gelöst werden. Der Status der besetzten Gebiete in der Ostukraine sollte auf einem Gipfeltreffen zwischen Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj geklärt werden.

Doch wie weit war wirklich schon ein Friedensvertrag ausgehandelt? Zu 75 Prozent, so beurteilte es später der russische Chefunterhändler Wladimir Medinski. Paraphiert, also von den Präsidenten unterschrieben, war er aber nicht. „Es gab keine Einigungen, und wir haben keine Punkte erreicht, wo wir einer Einigung nahekamen“, sagt der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak.

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Wowtschansk: Zwischen Trümmern und Hoffnung

Im Krisenmodus

Wladimir Putin: Diese Punkte machen ihn so selbstsicher

Auf der Grundlage dieses Papiers will Putin nun weiter verhandeln. Militärisch fühlt sich der Kremlchef auf der Erfolgsspur. Die russische Armee erzielt in der Ostukraine weiterhin Geländegewinne. Umgekehrt ist die ukrainische Offensive im russischen Grenzgebiet zum Stillstand gekommen. Bald kommt die herbstliche „Rasputiza“, die Schlammsaison, die Straßen und Wege für viele militärische Fahrzeuge unpassierbar macht. Bis zum Frühjahr wird sich nicht viel bewegen, vermuten Experten.

Kremlchef Putin hat aber sicherlich auch außen- und innenpolitische Gründe für seine Verhandlungsbereitschaft. Wichtigster Punkt: Die anstehenden Wahlen in den USA. Wird der neue Präsident oder die neue Präsidentin die Ukraine weiterhin mit Waffen unterstützen wie bisher? Die Wahlen in Deutschland kommentiert der Kreml nicht. Wahrgenommen aber werden das Erstarken von AfD und BSW in Thüringen und Sachsen und deren Position „Diplomatie statt Waffen“ sehr wohl.

Putins Verhandlungsbereitschaft ist möglicherweise auch eine Reaktion auf die wachsende Kriegsmüdigkeit vieler Russinnen und Russen. „Zum ersten Mal seit sechs Monaten ist die Zahl der Befürworter von Verhandlungen deutlich gestiegen“, beschreibt das unabhängige russische Meinungsforschungsinstitut Lewada die Stimmungslage. In einer aktuellen Umfrage wollen 58 Prozent der Befragten Verhandlungen. Gleichzeitig glauben 37 Prozent, dass es notwendig sei, die Militäroperationen fortzusetzen.

76 Prozent aller Befragten unterstützen nach wie vor das Vorgehen der russischen Streitkräfte in der Ukraine. Insgesamt 17 Prozent aber sind dagegen. Vor allem unter den Jüngeren im Land nimmt die Skepsis zu. Bei den Befragten unter 24 Jahren unterstützen nur 59 Prozent den Krieg. Und 33 Prozent aller Menschen in Russland äußern Besorgnis, Angst und Schrecken, so die Umfrage.

Krieg gegen die Ukraine: Putin sieht Momentum auf seiner Seite

Wladimir Putin nimmt natürlich auch die wachsende Zermürbung in der Ukraine wahr. Die Angst vor dem nächsten kalten Kriegswinter ohne ausreichend Heizung. Das Ziel der stetigen Angriffe mit Drohnen und Raketen auf die kritische Infrastruktur. Und auch den dramatischen Umbau im ukrainischen Regierungsapparat, den Rücktritt von Außenminister Dmytro Kuleba. Zwischen ihm und Präsident Selenskyj kriselte es wohl. Auch im Hinblick auf Friedensverhandlungen. Selenskyj stellt aus russischer Sicht unannehmbare Vorbedingungen. Kuleba hingegen wollte sich mit Russland an den Tisch setzen. Sein Nachfolger Andrij Sybiha kommt aus Selenskyjs direktem Umfeld. Doch auch er wird die zunehmende Kriegsmüdigkeit im Land und bei den Partnern nicht verhindern können.

Russlands Präsident Putin will verhandeln, natürlich zu seinen Bedingungen. In Wladiwostok nannte er bereits mögliche Vermittler. „Wir respektieren unsere Freunde und Partner, die ein aufrichtiges Interesse an der Lösung aller Probleme im Zusammenhang mit diesem Konflikt haben. Dies sind vor allem die Volksrepublik China, Brasilien und Indien.“ Nun muss die Ukraine, muss der Westen reagieren.