Kiew. Aus der Zelle direkt in den Kampf: Viele russische Häftlinge sind diesen Weg gegangen – und nicht zurückgekehrt. Jetzt zieht Kiew nach.

Was in Russland längst praktiziert wird, ist inzwischen auch in der Ukraine möglich: Häftlinge dürfen seit einigen Wochen für die Armee rekrutiert werden – allerdings nur jene, die keine schweren Straftaten begangen haben. Seitdem sind bereits mehr als 3000 Männer aus ukrainischen Gefängnissen zu den Streitkräften gewechselt. Und es könnten bis zu 45.000 Kriminelle dazukommen, die aktuell ihre Strafe absitzen. Kiew hofft darauf, dass sich zumindest 10.000 von ihnen auch dazu entscheiden werden.

Zum Vergleich: In Russland befinden sich mehr als 400.000 Menschen in den Gefängnissen. Die ukrainischen Häftlinge werden zudem keinen allzu großen Anteil ausmachen. Schon jetzt dienen in den ukrainischen Verteidigungskräften rund eine Million Menschen – bis Jahresende sollen noch rund 200.000 Männer zusätzlich mobilisiert werden, um in Kombination mit mehr westlicher Munition das langsame, aber kontinuierliche Vorrücken Russlands zumindest stoppen zu können.

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An vorderster Front wurden Kriminelle und Schwerverbrecher bislang vor allem von der Söldnertruppe Wagner eingesetzt: Bei den monatelangen Kämpfen um Bachmut in der Region Donezk sollen Zehntausende von ihnen ums Leben gekommen sein. Seit dem gescheiterten Wagner-Aufstand und dem Tod des Gründers Jewgenij Prigoschin werden Häftlinge in Russland direkt vom Verteidigungsministerium rekrutiert – und bilden Sturmeinheiten, die sich Storm Z nennen.

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Im Krisenmodus

Ukraine: In ersten zwei Wochen gab es 4500 Rekrutierungsanträge

Obwohl sich die Mobilisierungszahlen in der Ukraine zuletzt deutlich verbessert haben, braucht die Armee weiterhin jeden einzelnen Soldaten, betonte Roman Kostenko, Sekretär des Verteidigungsausschusses, kürzlich im Parlament. Häftlinge, die schon seit den ersten Kriegstagen in die Armee wollten, durften es lange nicht. Lediglich 2022 waren Veteranen aus dem Donbass-Krieg in Einzelfällen von Präsident Wolodymyr Selenskyj begnadigt worden. Es handelte sich aber nur um etwa 350 Personen.

Denys Maljuska, Justizminister der Ukraine, räumt Parallelen zur russischen Rekrutierung von Häftlingen ein.
Denys Maljuska, Justizminister der Ukraine, räumt Parallelen zur russischen Rekrutierung von Häftlingen ein. © picture alliance/dpa | Hannes P Albert

Das Problem musste gelöst werden. Und ein erster Effekt des neuen Gesetzes ist bereits zu erkennen: Zwei Wochen nach dessen Inkfrafttreten sind rund 4500 Rekrutierungsanträge von Häftlingen eingegangen – mehr noch, als entsprechende Stellen beim Justizministerium erwartet hatten. Dabei wird es auch in der Ukraine überwiegend so sein, dass Häftlinge bei den Sturmtruppen eingesetzt werden – also zu den Soldaten gehören, die ihr Leben in den am stärksten umkämpften Gebieten riskieren.

„Natürlich gibt es Parallelen, da müssen wir uns nichts vormachen“, sagte Justizminister Denys Maljuska mit Blick auf die russische Rekrutierung in Gefängnissen. Der Regierung in Kiew gehe es aber nicht darum, Kanonenfutter für die Infanterie zu finden, sondern freiwillige Häftlinge, die tatsächlich kämpfen wollen. „Bei den Russen war es faktisch eine Zwangsmobilisierung“, betonte Maljuska. „Sie wurden aufgefordert, ohne Vorbereitung an die Front zu gehen.“ Im Falle der Ukraine sei das anders.

Mörder und andere Schwerverbrecher werden sofort aussortiert

Jeder Antrag eines Häftlings wird in der Regel zwischen ein und zwei Wochen lang überprüft. Personen, die an HIV oder Tuberkulose erkrankt sind oder ernsthafte Verletzungen haben, werden noch im Gefängnis aussortiert. Wurde der Medizincheck erfolgreich absolviert, entscheidet im letzten Schritt ein Gericht, ob der Häftling in den Kriegsdienst entlassen wird. Allerdings sind die Anhörungen eher eine Formsache und dauern nur wenige Minuten – auch wenn es klare Ausnahmen gibt.

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Häftlinge, die schwere Straftaten – etwa einen Mord – begangen haben, kommen für die Armee nicht infrage. Gleiches gilt bei Verbrechen gegen die nationale Sicherheit, Terrorismus, tödlichen Verkehrsunfällen unter Alkoholeinfluss, sexueller Gewalt und besonders schwerer Korruption. Nur wer die Erstauswahl im Gefängnis bestanden hat, kommt überhaupt in den Kontakt mit den entsprechenden Brigaden der ukrainischen Armee.

Oft sind das keine Standardeinheiten, sondern zum Beispiel die aus dem Umfeld des Asow-Regiments entstandene 3. Separate Sturmbrigade, die als eine der Elite-Einheiten ausschließlich auf die freiwillige Rekrutierung setzt. Regulär mobilisierte Soldaten dienen dort nicht. Stattdessen hat die Brigade mittlerweile reichlich Erfahrung darin, eigenständig für den Dienst beim Militär zu werben. Vertreter besuchen derzeit die Gefängnisse im ganzen Land auf der Suche nach Freiwilligen.

Sorge vor Spannungen innerhalb der ukrainischen Einheiten wächst

Dabei kommt es nicht selten zu kuriosen Begebenheiten. Einem Bericht zufolge soll ein Maler aus der ostukrainischen Großstadt Charkiw zunächst wegen Mobilisierungsverweigerung zu drei Jahren Haft verurteilt worden sein. Gegen seine Verurteilung reichte er demnach sogar eine Klage beim Obersten Gericht ein. Doch nach einem Monat in der Strafkolonie stellte er plötzlich einen Rekrutierungsantrag – und soll inzwischen bereits die Ausbildung absolvieren.

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Unklar ist bislang, wie sich die Rekrutierung der Häftlinge auf die Stimmung innerhalb der Armee auswirken wird – ob es womöglich deshalb zu Spannungen kommt. Bislang sieht das Gesetz deshalb vor, dass Häftlinge in separaten Kompanien dienen sollen. Die 5. Separate Sturmbrigade will sogar ein ganzes Bataillon mit 600 bis 800 Häftlingen formieren. Doch Kritiker lehnen diese Logik ab. Es sei besser und sicherer, rekrutierte Häftlinge in bereits existierende Kompanien zu integrieren.