Berlin. Alexander Schweitzer spricht im Interview über eine Kindheit auf dem Schiff und sagt, warum er Olaf Scholz in der Zwickmühle sieht.
Alexander Schweitzer (SPD) tritt in große Fußstapfen: Seit Juli ist er als Nachfolger von Malu Dreyer Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz. Im Interview sagt er, wie ihn eine Kindheit auf dem Binnenschiff geprägt hat, was ihn an der Ampel-Regierung in Berlin nervt und wie die SPD jetzt wieder in die Offensive kommen kann.
Ihre Vorgängerin Malu Dreyer war als Ministerpräsidentin bundesweit bekannt. Sie sind der Neue – was müssen die Leute wissen über Alexander Schweitzer?
Alexander Schweitzer: Mein Vater war Binnenschiffer, ich habe die ersten Jahre meines Lebens auf dem Schiff zugebracht. Und ich bin der erste in der Familie, der Abitur gemacht und studiert hat. Gerade weil ich es persönlich erlebt habe, ist mir das Aufstiegsversprechen, das die Demokratie und die soziale Marktwirtschaft bieten, auch politisch wichtig.
Wie hat Sie das Aufwachsen auf einem Schiff geprägt?
Heimat und Verwurzelung sind mir sehr wichtig, das ist eine Reaktion auf diese Erfahrung. Und andererseits bin ich sehr offen für Neues, und es macht mir nichts aus, viel unterwegs zu sein. Das ist für den Arbeitsalltag als Politiker hilfreich.
Sie ernähren sich seit Jahren vegan. Warum?
Ich wollte es ausprobieren, ich war neugierig, ob das für mich funktioniert. Das tut es, deswegen bin ich dabeigeblieben. Ich habe gemerkt, man kann sich auch gut ernähren, ohne Tiere zu essen. Aber ich missioniere niemanden. Und ich gehe weiterhin auf Schlachtfeste, weil sich da viele Menschen treffen. Statt Bratwurst essen trinke ich da halt Weinschorle.
In Rheinland-Pfalz gibt es viele Landwirte. Begegnen die einem veganen Ministerpräsidenten skeptisch?
Im Gegenteil – in der Vorderpfalz gibt es auch den Gemüsegarten Deutschlands, wo sehr viel Obst und Gemüse angebaut wird. Gerade als Veganer bin ich daher ein guter Abnehmer der landwirtschaftlichen Produkte des Landes.
Anfang des Jahres gab es heftige Proteste unter den Landwirten. Wie ist jetzt Stimmung in der Branche?
Abwartend. Die zugesagte Unterstützung durch die Bundesregierung muss jetzt tatsächlich umgesetzt werden. Die Landwirte brauchen Planungs- und Investitionssicherheit.
In Rheinland-Pfalz gibt es viele Winzer, die besonders heftig von Klimaveränderungen getroffen werden. Wie wirkt sich das aus?
Das ist ein völlig unterschätztes Thema. Für die Winzer ist der Klimawandel schon seit Jahren eine Realität, mit der sie umgehen müssen. Mein Opa hatte neben seiner Arbeit als Bauarbeiter einen kleinen Weinberg, da haben wir Enkelkinder mitgeholfen bei der Ernte. Wir hatten damals noch Mütze und Schal an, weil es im Herbst kalt war. Inzwischen tragen die Leute bei dieser Arbeit kurze Hosen und T-Shirts, und die Ernte beginnt von Jahr zu Jahr ziemlich genau einen Tag früher.
Wie reagiert man darauf?
Wir brauchen Klimawandel-angepasste Rebsorten, mehr Pflanzenschutz, mehr Insektenschutz. Und wir werden eine Verschiebung der Sorten innerhalb der Anbaugebiete erleben. In Zukunft wird es Rotweine geben aus Anbaugebieten, wo ihn noch vor 30, 40 Jahren niemand vermutet hätte. Das ist eine Herausforderung. Aber wir werden weiterhin die besten Weine Deutschlands in Rheinland-Pfalz anbauen.
Lesen Sie hier: Angst um deutschen Wein: Warum die Wut an der Mosel wächst
Ihr Bundesland hat auch bei der Ahr-Flut erlebt, welche Folgen der Klimawandel haben kann. Viele haben damals alles verloren, viele waren nicht versichert. Braucht es eine Pflichtversicherung gegen Elementarschäden?
Ja, ich werbe für eine Lösung. Wir werden immer mehr Fälle sehen, wo Leute bereit sind, eine Elementarschadensversicherung abzuschließen, aber keinen Versicherungsgeber mehr finden. Das ist kein Zustand.
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Also der Staat als Rückversicherer?
Der Staat kann nicht länger alle Risiken tragen und für alle Schäden aufkommen, für die Versicherungen derzeit nicht eintreten, darum brauchen wir eine Solidargemeinschaft aller.
Wie erkläre ich jemanden, der sein Haus weit weg von Wasser hat, dass er eine Elementarversicherung abschließen muss, auch wenn er sie nicht braucht?
Es ist ein Solidarprinzip. Und die bittere Wahrheit ist: Es wird in Deutschland bald keine Regionen mehr geben, die sicher sein können, kein Extremwetter zu erleben.
Ihre Parteikollegin Klara Geywitz hat kürzlich vorgeschlagen, Leute, die in der Stadt keine Wohnung finden, könnten aufs Land ziehen, da gebe es Leerstand. Ist das eine gute Idee?
Das findet tatsächlich individuell ganz oft schon statt. Gleichzeitig ist mir wichtig zu sagen: Der ländliche Raum ist nicht der Reserveraum des städtischen Zentrums. Wir haben ländliche Regionen mit hervorragenden Chancen, mit starker Wertschöpfung, mit Forschungseinrichtungen. Und Familien finden dort Wohnraum, den sie sich leisten können. Aber natürlich fährt der Bus da nicht alle 15 Minuten.
Was ist wichtiger, wenn es um attraktive ländliche Räume geht: der Ausbau des ÖPNV oder ein dauerhaft günstiges Deutschlandticket?
Beides ist wichtig. Ein günstiges Ticket ohne entsprechendes Fahrplanangebot bringt niemandem etwas. Und 49 Euro wird es auf Dauer nicht kosten. Aber es muss günstiger bleiben als die meisten Verbundkarten.
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Sie regieren in Rheinland-Pfalz auch in einer Ampel-Koalition. Hat das Bündnis auf Bundesebene eine Zukunft?
Das ist heute schwer zu sagen. Ich teile die Sorge vieler Menschen, dass sich diese Bundesregierung zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Nach den fast bleiernen Jahren der Großen Koalition war ich der Meinung, dass die Ampel mit ihren Projekten genau das ist, was dieses Land braucht. Wie das Bündnis nun drei Jahre später dasteht, ärgert mich zutiefst. Sollten die drei Parteien am Ende keinen Grund mehr finden, gemeinsam als Ampel in die Bundestagswahl zu gehen, halte ich das für eine riesige vertane Chance, eine Alternative innerhalb der demokratischen Mitte zu sein.
Für eine Wiederwahl bräuchte es eine starke SPD, ihre Partei liegt in Umfragen bei 15 Prozent. Die Beliebtheitswerte von Olaf Scholz sind schlecht. Wird es noch einmal eine Diskussion um die Kanzlerkandidatur geben?
Das erwarte ich nicht. Wir stellen den Bundeskanzler, obwohl sich das vorher auch in der SPD viele nicht vorstellen konnten. Damals hat Scholz einen großen Rückstand aufgeholt, das kann wieder passieren. Ich weiß, das klingt im August 2024 nach Zweckoptimismus, aber bis in einem Jahr wird es noch viel Bewegung geben.
Klingt in der Tat sehr optimistisch.
Wir müssen mal wieder in die Offensive kommen. Die SPD und der Kanzler sind im Kleinklein der Ampelkoalition gefangen. Immer wieder müssen wir Kompromisse finden, diese Kompromisse verteidigen und hoffen, dass sie auch 24 Stunden später noch halten. Wenn es vor der Bundestagswahl in der Auseinandersetzung mit der Union, unserem politischen Hauptgegner, wieder um die großen Fragen geht, kann sich die politische Raumtemperatur in Deutschland wieder ändern.
Was sind für Sie die großen Fragen?
Ich meine die Küchentischthemen, über die Familien zu Hause sprechen: Das sind die Rente, die Zukunft der Pflege, das Gesundheitswesen, Kinderbetreuung, natürlich auch Migration. Bei diesen Alltagsthemen kann die SPD zeigen, was sie drauf hat. Bei der Steuerung der Migration haben wir in den letzten zwei, drei Jahren mehr erreicht als vorher die Innenminister der Union. Klar ist: Wir brauchen Menschen, die zu uns kommen. Aber nicht alle, die kommen, können bleiben.
Aber der Fokus liegt auf der Sozialpolitik?
Wenn über Sozialpolitik diskutiert wird, wird vor allem über das Bürgergeld debattiert. Das müssen zum Glück nur die allerwenigsten Menschen überhaupt nutzen. Aber fast jede Familie hat mit dem Thema Pflege zu tun, darüber müssen wir viel öfter reden, im Bundestag, in den Talkshows. Wir müssen über das soziale Miteinander in Deutschland diskutieren. Deswegen bin ich gar nicht traurig darüber, wie die Union derzeit mit dem Thema Bürgergeld umgeht.
Wieso?
CDU-Generalsekretär Linnemann und andere Unionspolitiker reden meinungsstark, aber oft ahnungslos über soziale Themen wie das Bürgergeld. Die laufen sich warm, für die Union ist das nur die Einstiegsdroge in einer großen Sozialabbaudebatte. Da werden wir CDU und CSU mit der gleichen Abrissbereitschaft erleben. Das betrifft die Finanzierung von Pflege und Rente, dann geht es um Arbeitnehmerschutz und Arbeitszeit. Ich freue mich auf diese Auseinandersetzung um die großen Themen der demokratischen Mitte.
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