Washington. US-Präsident Joe Biden gibt sein erstes Interview nach dem TV-Debakel. Doch die Fragen zu seiner geistigen Verfassung bleiben offen.

US-Präsident Joe Biden führt seinen komplett misslungenen Auftritt im TV-Duell gegen Donald Trump vor acht Tagen allein auf einen isoliert erkältungsbedingt „schlechten Abend” zurück. Anzeichen für eine „ernsthafte Erkrankung” gebe es bei ihm nicht. Und darum auch keinerlei Anlass, seine Präsidentschaftskandidatur zu überdenken. Allenfalls wenn der liebe Gott ihm sagen würde, dass er aus dem Rennen aussteigen solle, würde er vielleicht ein Aufgeben in Erwägung ziehen.

Das sagte der 81-jährige Demokrat am Freitagabend in seinem ersten Fernseh-Interview nach dem Debakel von Atlanta. Es brachte dem ältesten Präsidenten in der Geschichte der USA massive Rücktritts-Aufforderungen ein; auch aus den eigenen Reihen, wo die Furcht vor einem Wahlsieg Trumps im November merklich angestiegen ist.

Biden nimmt Schuld für Debakel bei TV-Duell auf sich

In dem 22 Minuten langen Gespräch mit dem Moderator George Stephanopoulos vom Sender ABC, der in den 90er Jahren Kommunikationschef des demokratischen Präsidenten Bill Clinton war, nahm Biden (diesmal live und ohne Teleprompter) die Schuld für den verkorksten Auftritt, in dem er über weite Strecken geistesabwesend, überfordert und kaum sprachfähig wirkte, komplett auf sich. 

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„Niemand ist schuld, nur ich”, sagte Biden bei dem am Rande einer Wahlkundgebung im Bundesstaat Wisconsin aufgenommenen Interview. Damit reagierte Biden auf den Vorwurf aus demokratischen Wahlkampfspender-Kreisen, dass Bidens Experten-Team den Präsidenten schlecht auf die Auseinandersetzung mit Trump vorbereitet habe.

Als Stephanopoulos Biden mit dem in US-Medien mehrfach kolportierten Befund konfrontierte, dass er im Weißen Haus über längere Zeit schon regelmäßige Ausfälle gehabt habe, ging Biden erstmals in Deckung. „Ich bin immer noch in guter Verfassung. Ich bin heute nicht fragiler als 2020. Ich werde permanent medizinisch überwacht”. 

US-Präsident: Wahrer mentaler Zustand bleibt offen

Das waren Sätze, mit denen Biden ein politisches Feuer austreten wollte, das seit Tagen lichterloh brennt und immer größer wird. Alle Nachfragen des Moderators nach dem wahren mentalen Zustand des Präsidenten blockte Biden mehr oder weniger ab. Er nahm für sich in Anspruch, derselbe Mann zu sein wie 2020. 

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Durch Stephanopoulos‘ Nachbohren kam heraus, dass Biden bisher noch keinen wissenschaftlich-medizinischen Test über seine kognitiven Fähigkeiten gemacht hat. „Mir hat niemand gesagt, dass ich das machen soll.” Als der Moderator freundlich aber bestimmt nachsetzte, ob er den Test unter den aktuellen Umständen (80 Prozent der Amerikaner bezweifeln seine geistige Fitness für eine zweite Amtszeit) absolvieren werde, wich Biden erneut aus. 

Die Forderungen eines Rückzuges von Joe Biden im Rennen um das Weiße Haus werden auch in den eigenen Reihen immer lauter.
Die Forderungen eines Rückzuges von Joe Biden im Rennen um das Weiße Haus werden auch in den eigenen Reihen immer lauter. © Getty Images via AFP | Jim Vondruska

Mit Verweis auf aktuell geführte Telefonate mit Israels Premier Netanjahu und dem neuen britischen Regierungschef Starmer erklärte Biden, er sei jeden Tag bei der Erledigung der Amtsgeschäfte kognitiven Tests ausgesetzt. 

Biden leistete sich, abseits einer allgemein teilweise schwer verständlichen Sprache, keine Aussetzer. Mehrfach blitzte sein typisches Haifischlächeln auf. Etwa, als Stephanopoulos fragte, ob er noch mal vier Jahre an der Spitze des Staates durchstehen könne. „Sonst hätte ich nicht kandidiert”. Ob er mit sich selbst wirklich ehrlich umgehe in dieser Hinsicht? „Ja, das tue ich.”

Biden: „Ich glaube nicht, dass irgendjemand besser qualifiziert ist, Präsident zu werden“

Biden ließ durchblicken, dass er seine Energie für die Kandidatur vorwiegend aus seinem Kontrahenten zieht. Biden nannte Trump einen „pathologischen Lügner” und zählte etliche seiner Pannen und Missgriffe auf. Bei der Top-Rolle im Weißen Haus gehe es „um den Charakter des Präsidenten”. Darum müsse Trump bekämpft werden. 

Dass der Republikaner nach dem TV-Duell seinen Abstand zu Biden in vielen Umfragen noch mal vergrößert hat, will Biden nicht wahrhaben. Ein Risiko, weiterzumachen sieht er nicht. Alle Meinungsforscher, mit denen er spreche, sagten ihm, es sei ein Kopf-an-Kopf-Rennen. 

Dass andere Demokratinnen oder Demokraten ähnliche oder vielleicht bessere Chancen haben könnte, Trump zu schlagen, lässt Biden nicht gelten. „Ich glaube nicht, dass irgendjemand besser qualifiziert ist, Präsident zu werden oder dieses Rennen zu gewinnen, als ich. Ich bin am meisten qualifiziert und ich kriege Dinge umgesetzt.”

Und was, wenn die Granden der demokratischen Partei – Nancy Pelosi, Chuck Schumer etc. – ihn demnächst um Rückzug bitten würden, weil der Rückhalt in der Wählerschaft immer mehr wegbricht und die Angst der Abgeordneten im Kongress vor Mandatsverlust überhand nimmt? Biden will die Frage nicht beantworten. Er versucht sich mit der Bemerkung zu retten: „Das werden sie nicht tun.” Genau daran gibt es zunehmend Zweifel. 

Kein realistisches Sieger-Szenario für Biden

Mit Mark Warner soll der erste demokratische Senator kurz davor stehen, den Präsidenten am kommenden Montag im Verein mit anderen zum Abdanken zu bewegen. Der Politiker aus Virginia sieht kein realistisches Sieger-Szenario für Biden mehr bei der Wahl am 5. November. Mit Maura Healey (Massachusetts) hat sich auch eine erste demokratische Gouverneurin eindeutig zu Wort gemeldet. Sie sieht die politische Lage Bidens für „unwiederbringlich verloren”. Healey rief den Präsidenten dazu auf, „auf das amerikanische Volk zu hören und sorgfältig zu bewerten, ob er unsere beste Hoffnung ist, Donald Trump zu schlagen.”

Eine Gruppe von rund 180 Wirtschaftsbossen hat diese Frage für sich bereits beantwortet: Nein. Die Unternehmer, darunter eine Erbin des Walmart-Supermarkt-Imperiums und der Krypto-Milliardär Mike Novogratz bitten Biden in einem Brief, er möge den Weg auf dem Parteitag in Chicago in sieben Wochen für einen Alternativ-Kandidaten freimachen. Biden hat die Signale vernommen. In einer betont energischen Rede in Wisconsin sagte er vor dem TV-Interview, Leute aus der eigenen Partei wollten ihn aus dem Rennen drängen. „Lassen Sie mich das so deutlich sagen, wie ich kann: Ich bleibe im Rennen! Und wir werden siegen.”

„Joe Biden verdrängt die Realität“

Und wenn nicht? Wie würden sie sich im kommenden Januar fühlen, wenn es schiefgegangen ist, wollte George Stephanopoulos zum Ende wissen. Die Antwort darauf wird vielen Demokraten nicht gefallen haben. „Solange ich alles gegeben habe”, war seine Botschaft, sei alles in Ordnung. 

Erste Reaktion aus der demokratischen Partei, vertreten durch einen ehemaligen Botschafter, der ein langjähriger Biden-Fan ist: „Joe Biden verdrängt die Realität, verweigert sich einem echten Test über seine geistige Gesundheit und will seine katastrophale Lage nach dem Duell mit Trump nicht wahrhaben. Dieses Interview verschlimmert im Grunde alles, weil keine Einsichtsfähigkeit erkennbar war.“