Paris. Ob Le Pen die Regierungsmehrheit erringt oder nicht: Der Präsident, der die Rechte bezwingen wollte, hat die Partie bereits verloren.
Es war spät am Abend, nachdem Emmanuel Macron die Bombe gezündet hatte, als er im kleinen Kreis sagte: „Es ist besser, Geschichte zu schreiben, als ihr unterworfen zu sein.“ Damit begründete er sein Vorgehen, das seine Landsleute schockiert hatte: Der französische Präsident hatte am 9. Juni eine schwere Schlappe bei den Europawahlen erlitten und war zur allgemeinen Überraschung vor das Fernsehpublikum getreten: In einer konfusen Ansprache erklärte er, er löse die Nationalversammlung auf, da „der Vormarsch der Nationalisten und der Demagogen eine Gefahr für die Nation“ sei.
Die konsternierten Franzosen verstanden die Welt nicht mehr: In Neuwahlen konnte doch nur Marine Le Pen gewinnen – eine Nationalistin und Demagogin! Doch Macron schien sich nicht einmal bewusst zu sein, dass er die Lepenisten aus dem Schandeck der Republik und direkt an die Macht im Staat holen könnte. Wie Vertraute im Élysée berichteten, schien er zufrieden über den Knalleffekt, mit dem er sich soeben in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt hatte.
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Das Geschehen nahm allerdings den befürchteten Lauf: Nach einer Blitzkampagne fast ohne Programmdebatte erhielt Le Pens Rassemblement National (RN) im ersten Parlamentswahlgang 33,4 Prozent, weit vor der linken Volksfront und vor dem Macron-Bündnis. Trotz der hastig aufgestellten „republikanischen Front“ mit ihrem gegenseitigen Kandidatenverzicht könnten die Lepenisten in der Stichwahl am Sonntag die absolute Mehrheit gewinnen und die Regierung stellen.
Fünfte Republik schützt den Präsidenten trotz aller Fehlentscheide
Für die Nation wäre das ein politisches Beben, ein kultureller Dammbruch, eine Grenzüberschreitung in das Jenseits der liberalen Demokratie. „Frankreich, das kannst du doch nicht tun!“, hört man aus den nicht minder entgeisterten Nachbarländern. Doch wer ist schuld am Desaster? Die einen sagen: das System. Die Fünfte Republik Frankreichs, von Charles de Gaulle auf den eigenen Leib geschneidert, schützt den Präsidenten durch alle Frivolitäten und Fehlentscheide hindurch.
Gewaltenteilung war für de Gaulle ein Fremdwort. Die Justiz ist – wie in den USA – machtlos gegen die Immunität des Staatschefs, das Parlament darf nicht viel mehr als seine Gesetze absegnen. Was, wenn der Präsident, der in Frankreich auch über die nukleare Abschreckung gebietet, den Faden verliert, auf Irrwege abdriftet? Wenn er eine dem Land drohende Gefahr nicht entschärft, sondern selbst noch verschlimmert? Die französische Verfassung hat keine Antwort darauf.
Für die Franzosen ist es derzeit keine theoretische Frage. Es geht um Macron. Der Linkspolitiker François Ruffin nannte den Präsidenten, der allein schon durch seine Aura geschützt ist, nach der Parlamentsauflösung respektlos einen „taré“, einen „Bescheuerten“, der das Land mit seiner Hü-hott-Politik ganz konfus mache und ins Chaos stürze. Etwas klinischer wäre der Befund eines spontanen „acte manqué“, wie man in Frankreich einen freudschen Versprecher nennt.
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Frankreichs Präsident stellt sich bereits auf ein neues Duell ein
Kurz vor dem 9. Juni hatte der Präsident am D-Day in der Normandie den Gastgeber für die Mächtigsten dieser Welt gespielt. Aufgekratzt, wie berauscht kehrte er laut Fernsebildern nach Paris zurück – und landete hart: Am Abend kassierte seine Partei Renaissance die erste gravierende Wahlniederlage seit seinem Amtsantritt im Jahr 2017. Es muss für den selbstverliebten Staatschef ein Schock gewesen sein. Die Zeitung „Le Figaro“ diagnostizierte eine „unerträgliche narzisstische Kränkung“ – zu Deutsch: verletzte Eitelkeit.
Macron, ausgenüchtert nach dem diplomatischen Höhenflug, soll mit kalter Wut reagiert haben, nach dem Motto: Wenn die Franzosen mich nicht wollen, dann sollen sie doch mit Le Pen glücklich werden. Schon kurz nach Bekanntwerden des Wahlresultats trat er vor die Kameras und verkündete die Neuwahlen. In seiner für einmal sehr trockenen Wortmeldung ging ein Satz unter: „Ich werde nicht nachgeben.“ Macron ist schon weiter, er hat die Wahl abgehakt, antizipiert die „Kohabitation“, die er womöglich mit einer Le-Pen-Regierung eingehen muss.
Oder will? Der Präsident stellt sich bereits auf ein neues Duell ein: Macrons Erfolg, auch seinen Bestand im Élysée, verdankt er Marine Le Pen. Bei den beiden letzten Präsidentschaftswahlen forderte er sie heraus. Aufgrund soziologischer Studien wusste sein Team, dass die RN-Wählerschaft die gläserne Decke der 50-Prozent-Schwelle kaum je durchbrechen wird. Deshalb hatte er mit der Rechten in der Stichwahl leichtes Spiel: 2017 besiegte er sie mit 66,1 Prozent, 2022 mit 58,5 Prozent.
Marine Le Pen gibt Macrons zweiter Amtszeit einen Sinn
Bei den Parlamentswahlen ist es ein wenig anders: Dank des Mehrheitswahlrechts kann Le Pen mit ihren 33 Prozent die absolute Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung erringen und damit die Regierung stellen. Macron, der so verhasst ist, dass er von Zaungästen schon geohrfeigt wurde, könnte davon profitieren: Er würde sich einmal mehr als das letzte Bollwerk gegen die Aushöhlung der Republik durch die Rechten inszenieren.
Sollte der politisch unerfahrene RN-Premier Jordan Bardella ein Ausländergesetz lancieren und durch das Parlament bringen, könnte der Präsident die Unterzeichnung und damit die Inkraftsetzung verweigern. Die nachfolgende Regierungskrise nähme er in Kauf: Macron lebt vom politischen Konflikt, sei es mit den Gelbwesten, den Impf- und Rentenreformgegnern, den Banlieue-Randalierern. Seine Lieblingsfeindin ist jedoch Le Pen. An ihr kann er seine Eloquenz messen und in einer „Kampf-Kohabitation“ neue Popularität gewinnen. Le Pen gibt seiner zweiten Amtszeit einen Sinn.
Dass er die zum Zerreißen gespannte, fieberhafte Stimmung im Land selbst verursacht hat, scheint ihm völlig zu entgehen. Am Sonntag vor dem ersten Parlamentswahlgang, an dem die Katastrophe Form annahm, flanierte Macron mit Lederjacke und Baseballmütze durch den schicken Badeort Le Touquet und frönte in bester Laune der Leichtigkeit des Seins. Jupiter, wie man ihn zu Beginn seiner Amtszeit nannte, kennt keine Selbstzweifel. Das erhöht noch die Gefahr.
Macron steht schon jetzt vor einem politischen Scherbenhaufen
Wenn Le Pen am Ende von Macrons Amtszeit, also 2027, Präsidentin wird, hat sie nicht mehr nur wie in einer Kohabitation die halbe Macht im Staat. Dann regiert sie, und dies mit der gleichen Allmacht, den gleichen Garantien wie alle Élysée-Herrscher. Macron steht dagegen schon jetzt vor einem politischen Scherbenhaufen. 2017 war er angetreten, um in dem extrem polarisierten Frankreich einen dritten Block zu bilden. Inhaltlich wollte er die Proeuropäer zum Sieg über die Nationalisten führen. Beides ist misslungen. Es war ein Selbstvernichtungsdrama in drei Akten.
1. Akt: Macron zerlegte seine an sich natürlichen Partnerparteien, die Konservativen und die Sozialdemokraten, indem er sie ihrer Ideen und Vordenker beraubte. Was er übersah, war der 2. Akt: Ihren Platz nahmen mehr und mehr die lauten, aggressiven Rechts- und Linksradikalen ein. Im Parlament, im Fernsehen hört man nur noch sie. Jetzt läuft Akt 3: Die beiden Populisten Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon halten ihrerseits Macrons Mitte-Lager im Zangengriff. „Der Macronismus ist gescheitert“, urteilt die Kolumnistin von „Le Monde“, Françoise Fressoz. Und mit ihm sein Gründer und Namensgeber. Ohne Land, ohne Truppen ist der Wahlmonarch heute sehr allein, sehr isoliert. Bloß: Weiß er das?
Macron hat es im Unterschied zu seinen Vorgängern Nicolas Sarkozy und François Hollande immerhin in eine zweite Amtszeit geschafft. Warum? Eben weil er Le Pen zu seiner großen Gegnerin stilisierte und sie im Finale mithilfe der übrigen Parteien besiegte. Aber jetzt funktioniert der Trick kein drittes Mal. Macrons Taktik, nach den Konservativen und Sozialdemokraten auch die Rechten zu zerstören, kommt wie ein Bumerang zurück. Denn jetzt ist der Gegner zu stark geworden.
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