Berlin. Christoph Heusgen, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, über Chancen für ein Ende des Ukraine-Kriegs – und seine größte Sorge.
Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz setzt zur Beendigung des Kriegs gegen die Ukraine auf eine Verhandlungslösung. Es sei richtig, dass man darüber nachdenke, denn an der Front sei eine Art Pattsituation entstanden, sagt Christoph Heusgen, der viele Jahre außenpolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war. Im Interview erklärt der 68-Jährige, wie die Lösung aussehen könnte und was die Ukraine dazu braucht.
Der russische Präsident Wladimir Putin setzt bei seinem Feldzug gegen die Ukraine auf eine wachsende Kriegsmüdigkeit im Westen. Es scheint, als ginge die Strategie auf. Kann die Ukraine den Krieg überhaupt noch gewinnen?
Ich glaube ganz sicher, dass die am Ende dieses schrecklichen Krieges als Gewinnerin vom Feld geht. Ganz wichtig ist, dass Putin ihn nicht gewinnt.
Wann hätte Russland denn gewonnen?
Putin hat sich als Ziel gesetzt, die Eigenstaatlichkeit der Ukraine auszulöschen und die Regierung in Kiew abzusetzen – das darf ihm nicht gelingen. Er will zudem verhindern, dass die Ukrainer frei entscheiden, ob sie Mitglied der EU und der Nato werden wollen. Auch hier darf sich Putin nicht durchsetzen.
Wird die Ukraine am Ende auf Territorien verzichten müssen?
Wir müssen die aktuelle Situation anschauen. Der ukrainische Generalstabschef Saluschnyj hat gesagt: Die Lage an der Front habe zu einem Patt wie an der Westfront im Ersten Weltkrieg geführt, und den erhofften tiefen Durchbruch werde es nicht geben. Er sagte, er habe die Bereitschaft der Russen unterschätzt, diese Menge an Menschen an der Front zu opfern. Wir haben es mit einer Verhärtung der Fronten zu tun.
Was bedeutet das?
Es darf nicht so ausgehen wie im Ersten Weltkrieg mit Hunderttausenden von Toten. Es ist deshalb richtig, dass man überlegt, wie man zu einer Verhandlungslösung kommt. Und ich denke, man kann sich dabei durchaus am Minsker Abkommen orientieren. Das hat heute einen schlechten Ruf. Ich halte dies für ungerechtfertigt. Minsk ist genauso gut oder schlecht wie das Budapester Memorandum von 1994 (in dem Russland die territoriale Integrität der Ukraine garantiert hat) oder die Charta der Vereinten Nationen. Alle drei hat Putin in die Tonne getreten, aber deswegen sind sie nicht schlecht. Putin ist schlecht, weil er sich nicht an internationales Recht hält.
Wofür steht Minsk?
Minsk steht erstens für einen Waffenstillstand, zweitens für einen Rückzug schwerer Waffen, drittens für eine Art Beobachtertruppe. Minsk steht viertens auch für die Frage einer politischen Perspektive, die die Integrität und Souveränität des Landes wiederherstellt, fünftens für die Durchführung von Wahlen und Weiteres mehr. Erinnern möchte ich hier daran, dass Putin von der in Minsk vereinbarten OSZE-Beobachtergruppe immer noch drei Personen unrechtmäßig gefangen hält!
Was wären denn die Voraussetzungen für ein solches Abkommen?
Putin muss die Regierung der Ukraine anerkennen. Das hat er bisher nicht getan. Außerdem müssen wir die Ukraine in die Lage versetzen, dass sie aus einer Position der Stärke heraus verhandelt. Denn Stärke ist das Einzige, das Putin respektiert. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Ukraine mit aller finanziellen und militärischen Kraft unterstützen. Die europäische Initiative von Bundeskanzler Olaf Scholz geht da genau in die richtige Richtung.
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Sollte die Bundesregierung deshalb auch die Taurus-Marschflugkörper liefern?
Ja. Die Briten und Franzosen liefern bereits ähnliche Waffen, es gibt keinen Grund, sie zurückzuhalten. Putin muss zu der Einsicht kommen, dass er militärisch nicht gewinnen kann. Dann wäre er vielleicht auch bereit, die Regierung von Wolodymyr Selenskyj anzuerkennen und in Verhandlungen einzutreten. Eines ist jedoch klar, bei jeder Art von Verhandlungslösung bräuchte die Ukraine robuste Sicherheitsgarantien. Denn ohne diese – das zeigen sowohl Budapest als auch Minsk – sind Vereinbarungen mit Putin das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind.
Wie müssten die aussehen?
Aus meiner Sicht wäre das ein Nato-Beitritt, nur so kann verhindert werden, dass Russland sich wie beim Minsk-Abkommen von 2014/15 nicht an die Vereinbarungen hält. Ein Angriff auf die Ukraine wäre dann ein Angriff auf die Nato.
Wird die Ukraine dann auf die Krim und Gebiete im Donbass verzichten müssen?
Die Entscheidung darüber trifft im Zuge von Verhandlungen allein die ukrainische Regierung, niemand kann ihnen diese Entscheidung abnehmen.
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Wird in Deutschland die Gefahr, die von Putin ausgeht, nach wie vor unterschätzt?
Unser Verhältnis zu Russland ist ein besonderes. Wir haben uns im Zweiten Weltkrieg mit mehr als 20 Millionen Toten auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion große Schuld aufgeladen. Zudem verdanken wir Russland viel, weil Michail Gorbatschow die Wiedervereinigung akzeptiert hat. Wir waren uns zunächst nicht im Klaren darüber, wie dramatisch der Wandel Russlands seit der zweiten Amtsperiode von Putin war. Spätestens am 24. Februar 2021, als Russland die Ukraine überfiel, dürfte aber jeder erkannt haben, dass Putin nicht mehr der ist, der noch 2004 bei Kanzler Schröder die letzte Nato-Osterweiterung akzeptiert hat. Putin will heute die Geschichte zurückdrehen. Das macht ihn gefährlich, und da müssen wir entsprechend reagieren.
Ist Deutschland auf eine mögliche erneute Präsidentschaft von Donald Trump in den USA vorbereitet?
Wir müssen völlig unabhängig vom Wahlausgang umsetzen, was wir der Nato schon 2014 versprochen haben: zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Sicherheit auszugeben. Der Bundeskanzler hat das sogar als Untergrenze definiert. Das geht in die richtige Richtung. Wir müssen aber auch auf europäischem Weg beim Thema Sicherheit und Verteidigung weitergehen. Die europäische Verteidigungspolitik muss ausgebaut werden.
Braucht Europa einen eigenen nuklearen Schutzschirm?
Wir haben in Europa einen amerikanischen Schutzschirm, die sogenannte nukleare Teilhabe. Wir sollten aber auch in jedem Fall das Angebot des französischen Präsidenten Macron annehmen, um über die europäische Dimension des französischen Nuklearschirms zu sprechen. Aus meiner Sicht wäre es ideal, wenn wir auch die Briten miteinbezögen. Sicher ist sicher.
Auch im Nahen Osten wird die Lage immer brisanter. Geht Deutschland zu vorsichtig mit Israel um?
Für Deutschland ist die Sicherheit Israels Staatsräson, dazu gehört, dass wir klar hinter dem Selbstverteidigungsrecht stehen und weiterhin Waffen liefern. Aber das ist nicht alles. Nach meiner Ansicht ist es elementar für die Sicherheit des Landes, dass sich Israel an internationales Recht hält. Und es ist unsere Verpflichtung, unseren israelischen Freunden dies mit Nachdruck zu vermitteln. Das sehe ich als Aufgabe eines Freundes, die viel stärker wahrgenommen werden muss.
Gibt es noch die Chance für eine Zwei-Staaten-Lösung?
Die Zwei-Staaten-Lösung stellt internationales Recht dar. Wir müssen aber mit großem Bedauern feststellen, dass der israelische Regierungschef Netanjahu davon nicht mehr spricht und in den letzten Jahren den Siedlungsbau gegen internationales Recht massiv ausgebaut hat. Ich sehe derzeit nicht, wie ein lebensfähiger palästinensischer Staat etabliert werden könnte. Schließlich leben auf dem Gebiet, das laut UN-Sicherheitsrat den Palästinensern zusteht, mindestens 700.000 israelische Siedler. Und der jetzige Krieg, der mit dem bestialischen Angriff der Hamas begann, macht die Lage noch viel schwieriger.
Hat Deutschland die Kraft, mit Israel und der Ukraine zwei Länder militärisch, finanziell und humanitär so massiv zu unterstützen?
Wir haben keine Alternative. In der Ukraine geht es auch um unsere Sicherheit. Ein Sieg Putins heißt, dass er mit seiner Aggression weitermacht. Aufgrund unserer geschichtlichen Verantwortung werden wir uns auch weiter im Nahen Osten engagieren und müssen alles tun, um zu einem dauerhaften Frieden beizutragen. Ich hoffe sehr, dass wir auf der nahenden Münchner Sicherheitskonferenz bei beiden Themen einen Schritt weiterkommen.
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