Ukraine/Region Awdijiwka. Sie ist die Königin des Schlachtfeldes: die Artillerie. Unser Reporter hat Soldaten besucht, die eigentlich keine Chance haben.
Das Telefon von Yaroslav meldet sich, es ist ein Geräusch wie ein elektronisch verzerrtes Quaken von Fröschen. Sofort macht sich in dem Erdbunker Anspannung breit. Die Befehlsstelle hat ein Ziel ausgemacht und gibt den Männern neue Koordinaten durch. Jetzt muss es schnell gehen. Die Soldaten ziehen sich ihre Splitterwesten über, stülpen sich ihre Helme auf, hasten nach draußen, die glitschigen, lehmigen Stufen hinauf, hin zu ihrer Haubitze, einem fünfzig Jahre alten Ungetüm sowjetischer Bauart.
Sie laden die Waffe, erst das gut einen halben Meter lange Geschoss, dann die Kartusche, richten das gewaltige Kanonenrohr aus. Die D20 brüllt ohrenbetäubend laut auf. Ein zweites Mal können die Artilleristen nicht feuern, sie müssen Munition sparen. Die Männer ziehen sich in ihren Bunker zurück und warten auf das russische Gegenfeuer.
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Die Region Donezk im Osten der Ukraine. Die Sonne ist an diesem Januartag hinter bleifarbenen Wolken verborgen, der graue Himmel wölbt sich über die unendliche Weite der Steppenlandschaft. Der Winter ist nicht so grimmig kalt wie vor einem Jahr, auf den Feldern liegen Schneereste, der Boden ist schlammig. Je näher die Front kommt, desto einsamer werden die Straßen, desto mehr kleine und große Bombentrichter sind in die Äcker gesprenkelt, desto lauter wird das Grollen des Krieges.
Schlacht um Awdijiwka: Nicht zu lange im Freien bleiben
Bei einer der Baumreihen, die die Felder in große Quadrate teilen, wartet Yaroslav, ein stämmiger Mann mit rotem Vollbart. Er ist der Kommandeur der Artillerieeinheit, die hier stationiert ist, um den russischen Ansturm auf die kleine Industriestadt Awdijiwka zu stoppen. Zu lange sollte man nicht im Freien bleiben. Die Gefahr ist groß, dass russische Aufklärungsdrohnen die Stellung erspähen und das gegnerische Feuer auf die Position leiten.
Yaroslav führt in den Bunker hinab, in dem er und die anderen sieben Männer leben. Es ist eine Erdhöhle mit einer Decke aus oberschenkeldicken Baumstämmen, den meisten Platz nimmt eine Doppelstockpritsche ein, in der Schlafsäcke und Decken mit Heizdrähten liegen. Den kleinen gusseisernen Ofen machen sie ungerne an, der Rauch könnte ihre Position verraten. Auf dem Boden liegen Wasserflaschen und Energydrinks, auf einem kleinen Tisch Weißbrot und Käse.
Autobatterien versorgen eine kleine Neonröhre und eine Glühbirne mit Strom. Es riecht nach Erde, nach Schweiß und Kleidung, die lange nicht mehr gewechselt wurde. Seit einer Woche sind sie jetzt hier, wenige Kilometer entfernt von Awdijiwka, wo eine Schlacht tobt, die der von Bachmut gleicht, jener Stadt, um die im vergangenen Jahr monatelange und enorm verlustreiche Kämpfe tobten, bis die Russen sie im Mai einnahmen.
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Artillerie im Ukraine-Krieg: „Leiden unter massivem Munitions-Hunger“
„Unsere Aufgabe ist es, die feindliche Infanterie aufzuhalten, wenn sie unsere Stellungen angreift“, erklärt Yaroslav. Der Feind attackiert unentwegt. Heute Morgen haben sie um drei Uhr gefeuert, um sechs Uhr, um neun Uhr. In manchen Nächten haben sie überhaupt nicht geschlafen. Der Kommandeur ist erst 24 Jahre alt, aber trotz seines Alters ein erfahrener Soldat. Er ist seit vier Jahren bei den Streitkräften und strahlt eine gelassene Ruhe aus. Seit dem Beginn der russischen Invasion war er ständig im Einsatz. „Das ist in Ordnung für mich. Ich will nicht nach Hause, wenn die Russen vor uns stehen.“
Die alte sowjetische Haubitze, mit der sie schießen, leistet gute Dienste, beteuert Yaroslav. Sie ist kein modernes Kriegsgerät wie die M-777, mit denen die Amerikaner die Ukraine ausgestattet haben oder wie die deutsche Panzerhaubitze 2000, aber sie schießen mit ihr „einigermaßen präzise“, sagt der Kommandeur. Seine Männer nicken zustimmend. Vor allem können sie die museumsreife Kanone selbst mit Bordmitteln reparieren, wenn etwas kaputtgeht. Das ist ein Vorteil gegenüber den neuen Artilleriesystemen, die bei Defekten mangels Ersatzteilen oft für Tage stillgelegt sind.
Trotzdem haben sie ein Riesenproblem: „Wir leiden unter massivem Munitions-Hunger.“ Ihre Feuerrate beträgt nur noch 15 Prozent der Feuerrate zu Beginn der russischen Invasion, rechnet Yaroslav vor. Es ist ein Problem, das nicht nur der 24-jährige Kommandeur dieser Artillerieeinheit und seine Männer haben. Der Mangel an Munition trifft alle ukrainischen Einheiten, die derzeit an den Fronten im Süden und Osten unter heftigem russischen Offensivdruck stehen.
Insbesondere die 152-Millimeter-Granaten gehen den Ukrainern aus. Es ist das Kaliber, mit dem Yaroslav und seine Männer feuern. Doch auch Granaten des Kalibers 155 Millimeter, mit dem beispielsweise die Panzerhaubitze 2000 bestückt wird, gehen zur Neige. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte in der vergangenen Woche vor Journalisten in Brüssel: „Der Krieg in der Ukraine zu einer Munitionsschlacht geworden.“
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Munition für Ukraine: Aus dem Westen wenig Neues
Während es den Russen gelungen ist, ihre Produktionskapazitäten trotz der Sanktionen des Westens deutlich zu erhöhen und Moskau zudem von Nordkorea mit mindestens einer Million Artilleriegranaten beliefert worden sein soll, ist der westliche Nachschub an die ukrainischen Streitkräfte ins Stocken geraten. Lieferungen aus den USA als dem bislang wichtigste Partner Kiews werden durch innenpolitische Querelen blockiert, in Europa leeren sich die Bestände dramatisch und die Industrie kommt mit der Produktion nicht nach. Erst am Mittwoch musste die EU einräumen, dass sie ihr Ziel verfehlen wird, der Ukraine bis Ende März eine Million Artilleriegeschosse zu liefern.
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Die Nato hat zwar in der vergangenen Woche rund 220.000 neue Artilleriegeschosse im Wert von 1,1 Milliarden Euro bei der Industrie bestellt, die Lieferung wird aber frühestens Ende kommenden Jahres erwartet. Deutschland hat die Lieferung von 68.000 Geschossen zugesagt, die ein französisches Rüstungsunternehmen produzieren soll. Das hätte früher für zehn Tage gereicht. Jetzt verschießen die Ukrainer nur noch rund 2000 Geschosse am Tag. Es ist ein sehr ungleicher Kampf. „Wenn wir drei oder vier Granaten abschießen, antworteten die Russen mit hundert Geschossen“, sagt Yaroslav lakonisch.
Ukraine-Krieg: Selbst für Uralt-Kanonen geht die Munition aus
Der eklatante Munitionsmangel der ukrainischen Streitkräfte ist einer der Gründe dafür, warum die Russen derzeit Geländegewinne erzielen, bei Awdijiwka oder Bachmut, aber auch weiter nördlich bei Kupjansk. Ohne das Artilleriefeuer kann die feindliche Infanterie, können feindliche Kampfpanzer bis zu den ukrainischen Positionen durchstoßen, sie erobern und sie halten. Noch sind diese russischen Erfolge rein taktischer Natur. Die Frage ist, wie lange es dauert, bis größere Durchbrüche gelingen.
„Wir sind motiviert und wir können uns hier noch halten“, sagt Kommandeur Yaroslav. „Aber wir sind dringend auf Unterstützung angewiesen.“ Die Munition, die sie für die alte D20-Haubitze verwenden, stammte meistens aus früheren Ostblockstaaten. Seine Männer und er arbeiten jetzt mit Munition aus ukrainischer Produktion. „Wir wissen nicht, wie lange unsere Vorräte reichen.“ Nachdem sie ihren Schuss abgefeuert haben, rät der Kommandeur zum raschen Aufbruch. Normalerweise antworten die Russen nach zehn Minuten oder einer Viertelstunde. „Dann wird einiges runterkommen.“
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