Berlin. Die Russen landen einen Coup und erreichen die umkämpfte Stadt durch die Kanalisation. Der Militärexperte prognostiziert ihre Einnahme.

Er zählt zu den bekanntesten Militärexperten in Deutschland: Carlo Masala. Der 55-Jährige lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um die beiden Konflikte in der Ukraine und in Israel.

Herr Masala, wie bewerten Sie den Coup der russischen Soldaten, durch die Kanalisation bei Awdijiwka vorzustoßen?

Carlo Masala: Das wird die Situation nicht dramatisch verändern. Die Ukrainer werden, so erwarte ich es, die Stadt Awdijiwka demnächst taktisch aufgeben. Denn der eigentliche Sinn, Awdijiwka solange zu halten, war, so viel russisches Material und so viele russische Truppen wie möglich zu zerstören.

Die Kanalisation zu nutzen, ist also nicht besonders gewieft?

Nein, wir wissen, dass die Kanalisation in Kriegen genutzt wird. Das ist nicht neu. Ganz einfach: Wenn sie nicht gesichert sind, werden diese Leitungen genutzt. Es kann allerdings durchaus sein, dass das jetzt öfter mal angewandt wird. Ich vermute aber mal, dass die Ukrainer die Kanalisation infolge dieser Aktion besser schützen werden.

Wie kann das aussehen, dass diese kilometerlangen Leitungen besser geschützt werden?

Sie können selbst in die Kanalisation reingehen und die Rohre mit Sprengfallen versehen oder die Tunnel verminen. Denken Sie an die Tunnel der Hamas im Gazastreifen. Man kann auch die eigenen Leute darin postieren oder Ausgänge zuschweißen. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten.

Was konkret erwarten Sie für die Lage in Awdijiwka jetzt?

Wann die taktische Aufgabe der Stadt erfolgt, kann man nicht seriös sagen. Aber irgendwann dreht sich die Kosten-Nutzen-Relation für die Ukraine ins Negative.

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Die Ukraine ringt momentan mit der Frage, wie weitere Soldaten für die Front mobilisiert werden können. Wie groß ist das Mobilisierungsproblem wirklich?

Es gibt schon länger einen Streit zwischen dem Oberkommandierenden der Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Saluschnyj, der Generalstabschef, sagt, er braucht 500.000 neue Leute. Selenskyj scheint davon nicht überzeugt zu sein. Das zeigt ja schon, dass Mobilisierung auf der politischen Ebene ein Problem ist. Damit hat die Ukraine natürlich ein Problem. Wenn der Chef der Streitkräfte sagt, er braucht mehr Soldaten und der Präsident aber aus, ich vermute mal, innenpolitischen Gründen davor zurückschreckt, diese Mobilisierung auszurufen, dann fehlen Menschen an der Front.

Es gibt Gerüchte, wonach Selenskyj Saluschnyj entlassen wollte. Die USA und Großbritannien sollen sich eingeschaltet haben.

Da gibt es viele Gerüchte. Tatsächlich gab es Konflikte über die Art und Weise, wie man in bestimmten Situationen in diesem Krieg verfährt – soll man Städte aufgeben oder nicht? Es wird gemutmaßt, dass Saluschnyj bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gegen Selenskyj antreten will. Dass das Verhältnis spannungsgeladen ist, das wissen wir. Von daher ergibt es durchaus Sinn, dass Selenskyj Saluschnyj entlassen wollte. Daher kam das jetzt nicht überraschend.

Nach meinen Informationen hat Selenskyj die Verbündeten aktiv konsultiert, um deren Meinung einzuholen über die Entlassung von Saluschnyj. Und da hat man ihm wohl deutlich davon abgeraten, mit dem Hinweis, es sei nicht klug, einen Generalstabschef während eines laufenden Krieges zu entlassen – ohne dass man ihm massive Fehler in der Operationsführung nachweisen kann. Hinzu kommt, dass Saluschnyj in der ukrainischen Bevölkerung beliebter ist als Selenskyj.

Was kann man über die Mobilisierung unter den Russen aktuell sagen?

Russland mobilisiert deutlich. Die Russen holen, was sie kriegen können, vor allem auch aus dem Ausland. Das sieht man auf vorliegenden Videos. Wir müssen jetzt abwarten, ob Putin nach den Wahlen im März eine zweite Mobilisierungswelle in Russland ausrufen wird.

Die Ukraine soll einen Medienbericht zufolge neue Bomben mit größerer Reichweite von den USA erhalten. Wie ist dieser Deal zu bewerten?

Die USA versuchen weiterhin, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen. Unter anderem soll die Ukraine in die Lage versetzt werden, Ziele hinter der russischen Front anzugreifen. Das ist für die Ukraine im operativen Sinne wichtig, aber es handelt sich erstmal nur um eine kleine Anzahl. Die Biden-Administration versucht, die Blockade des Kongresses zu umgehen, etwa auch indem sie Rüstungsgüter an Griechenland liefert. Biden und seine Leute versuchen im Rahmen dessen, was sie noch können, die militärische Unterstützung der Ukraine aufrechtzuerhalten.

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