Paris. Gisèle Pelicots jahrelanges Martyrium hat in Frankreich eine Debatte über die Bestrafung von Vergewaltigern aufflammen lassen. Eine Analyse.

Man glaubte sich verhört zu haben, als Anfang September die erste Meldung erging: In Avignon begann ein Prozess gegen einen unbescholtenen Ehemann, der seine Gattin Gisèle P. jahrelang immer wieder betäubt und Dutzenden von Männern über einen Internet-Chatroom zur Vergewaltigung überlassen hatte. Unglaublich, unfassbar.

Aber der Gewöhnungseffekt wirkt. Die französischen Medien berichten täglich live; auch aus dem Ausland haben sich 140 Presseleute akkreditiert – viele von ihnen kommen nicht einmal in den überfüllten Gerichtssaal. Die erste Überraschung in diesem Monsterprozess, der auch ein Prozess der Monster ist: Gisèle Pelicot (72) trat nicht nur mit ihrem ganzen Namen auf; sie wünschte sogar, dass die Verhandlung öffentlich sei. Auch die Fotos und Videos, die ihr Mann zu tausenden erstellte und säuberlich betitelte (etwa: „3. Sodomie“ oder „Jacques mit dem Finger“), wollte sie zeigen.

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Warum? „Die Schande muss die Seite wechseln“, erklärte die mutige Französin sehr bestimmt. Sie wolle anderen Vergewaltigungsopfern klarmachen, dass es möglich sei, vor Gericht sogar gegen 50 Angeklagte anzutreten.

Pelicot-Prozess: Angeklagter überraschte mit Geständnis

Über Nacht eine Heldin der Nation geworden, setzte sie sich mit ihrer Forderung nach totaler Transparenz sogar gegen Gerichtspräsident Roger Arara durch, der aus Sittlichkeitsgefühl wenigstens die abstoßendsten Videos dem Publikum vorenthalten wollte. Auf einem Ausschnitt macht sich Dominique Pelicot zusammen mit einem anderen Mann über seine völlig wehrlose Frau her; mit der Rechten filmt er die Gewaltszene, mit der Linken reicht er dem ejakulierenden Fremden neben sich ein Kleenex.

In Frankreich ist sie zur Heldin geworden: Gisèle Pelicot wird vor Gericht tagtäglich mit Applaus empfangen.
In Frankreich ist sie zur Heldin geworden: Gisèle Pelicot wird vor Gericht tagtäglich mit Applaus empfangen. © AFP | Christophe Simon

Dann noch eine Überraschung: In seiner ersten Einvernahme bekannte sich Dominique Pelicot (71) als rundum schuldig. „Ich bin ein Vergewaltiger“, sagte er, und man hatte das Gefühl, als wäre die Sache damit für ihn abgehakt. Leichthin erzählte er, der „XXL-Perverse“, wie ihn Pariser Medien nennen, dass er jeweils das Nachtessen gekocht habe und seiner Frau – mit der er seit über 40 Jahren verheiratet war und drei Kinder hatte – Schlafmittel ins Essen schüttete. „Sie wunderte sich manchmal, aber im Normalfall ging das relativ einfach.“ Am Abend vergewaltigte er sie zusammen mit einem anderen Mann; und solange die Wirkung der hohen Pulverdosen anhielt, wusch er seine Frau, zog ihr das Nachthemd wieder an und beseitigte alle Spuren.

Angeklagte reden sich raus: „Hatte den Kontakt zu meinem Gehirn verloren“

Von 2011 bis 2020 wiederholte er das Szenario mehrere hundertmal, laut den Bildbeweisen mit 70 Männern. Deren 50 konnten eruiert und angeklagt werden: Männer zwischen 26 und 70, aus allen Berufen und Schichten, die meisten aus der Umgebung stammend. Einige kannten sich, ohne zu wissen, dass sie das gleiche Sexportal namens „coco.fr“ besuchten.

Der letzte Angeklagte, ein gewisser Philippe L., suchte auf diesem Kanal zum Beispiel „eine kokette Frau“. Von Dominique Pelicot kontaktiert, besuchte er dessen Villa im provenzalischen Städtchen Mazan. „Eine reglose Frau auf dem Schlafzimmerbett, das schien mir bizarr, aber ich stelle keine Fragen“, führte der heute 62-Jährige vor Gericht aus. Dass er die Frau missbrauchte, ohne ein Wort der Zustimmung erhalten zu haben, begründete er so: „Ich hatte den Kontakt zu meinem Gehirn verloren.“

Ein anderer dieser Fernfahrer, Soldaten, Informatiker, Journalisten und Elektriker staunte, als er Pelicots Schlafzimmer betrat: „Deine Frau, die ist ja wie tot.“ Aber er machte weiter. Die Psychiater erklärten, diese Vergewaltiger seien nicht krank, auch nicht unbedingt „gefährlich“; viele seien als Kinder sexuell missbraucht worden, lebten allein, tränken, und hätten sich von Dominique Pelicot hineinziehen lassen.

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Vielsagend: ihr Frauenbild. Ein Didier S. erklärte, warum ihn die Reglosigkeit der auf dem Bett liegenden Frau nicht sonderlich störte: „Es war sein Haus, sein Zimmer, sein Bett, seine Frau.“ Ein anderer sagte: „Er macht mit ihr, was er will.“ Über die knapp drei Prozessmonate hinweg wurde augenfällig, was Gisèle Pelicot schon zu Prozessbeginn gesagt hatte: Ihr unwissentlicher Horrortrip wäre nicht möglich gewesen ohne einen tief verankerten „Machismus und Patriarchalismus“, der in Südfrankreich vielleicht noch stärker ist als im Norden.

Victim Blaming? Opfer musste sich harte Fragen gefallen lassen

Auch die Verteidigerinnen der 51 Angeklagten griffen vorzugsweise das Vergewaltigungsopfer an, statt Argumente für ihre Klienten zu finden. Zu Beginn des Prozesses bezweifelten sie, dass Gisèle Pelicot nichts bemerkt haben wollte. Dieser Angriffswinkel ließ sich noch vertreten: Denn falls Gisèle Pelicot bei dem Sexspiel in irgendeiner Form mitgemacht hätte, wäre der Tatbestand der Vergewaltigung hinfällig gewesen.

France Mass Rape Trial Enters Final Phase - Avignon Gisele Pelicot, flanked by her son Florian (R), arrives at the court
Ihre Kinder, hier Sohn Florian (r.), begleiten Gisèle Pelicot zum Gericht. © IMAGO/ABACAPRESS | IMAGO/Coust Laurent/ABACA

Im Verlauf des Prozesses warf die wortgewaltige Anwältin Nadia El Bouroumi Gisèle Pelicot auch noch vor, sie sei ihrem dominanten Mann weiterhin ausgeliefert und bleibe bis in den Gerichtssaal „unter seiner Kontrolle“. Das war nur noch „victim-blaming“, Angriff auf das Opfer. Dass es vor allem von Frauen – den Verteidigerinnen der Angeklagten – betrieben wurde, wirkte paradox.

Zumal es Männer sind, die Gisèle Pelicot vertreten. Einer ihrer beiden Anwälte, Stéphane Babonneau, stellte den Prozess in einen weiteren Zusammenhang: „Dieser Fall ist eine Illustration der Kultur der Vergewaltigung. Ich hoffe, dass die im männlichen Selbstbild tief verankerte Idee, wonach der Körper einer Frau ein Objekt der Eroberung ist, durch diesen Prozess verändert wird.“

Verhandlung erinnert an revolutionären Vergewaltigungs-Prozess

Feministinnen ziehen eine Parallele zu einem „historischen“ Prozess im Jahr 1978 in Aix-en-Provence. Ein zurückgewiesener Mann hatte mit zwei Komplizen zwei Frauen vergewaltigt; in der Folge des Prozesses hatte Frankreich den Straftatbestand für Vergewaltigung massiv verschärft.

Auch spannend: Gewalt in Beziehung – deshalb vergewaltigen Männer ihre Ehefrauen

Der Prozess von Avignon entfaltet auch schon Wirkung: Abgeordnete der französischen Nationalversammlung lancieren eine Gesetzesänderung, die wie in Spanien eine explizite Einwilligung für Sex („Nur ein Ja ist ein Ja“) verlangt – sonst ist es eine Vergewaltigung. Strafverschärfend soll zudem jede Art von Betäubung werden. Das sei „die höchste Form der Gewaltausübung“ über einen Körper, sagte Gisèle Pelicot, die neue Ikone der Frauenrechte.