Avignon. Gisèle Pelicot wird in Avignon mit Applaus empfangen. Sie verfolgt den Prozess konzentriert – selbst bei den grausamsten Aussagen.
Es ist neun Uhr morgens, Gerichtspräsident Roger Arata wird gleich die Verhandlungen der vierten Prozesswoche eröffnen. Anwälte und Journalisten haben im Saal des Justizpalastes von Avignon bereits Platz genommen. Da dringt aus der Vorhalle das Geräusch von anschwellendem Applaus. „Aha, Gisèle Pelicot ist eingetroffen“, ruft der Reporter des Lokalblattes Vaucluse Matin. Wie jeden Morgen empfangen die Zuschauer – es sind meist Zuschauerinnen jeden Alters –, auch an diesem Wochenbeginn die Hauptfigur des Prozesses mit einer Ehrerbietung, bevor sie die Verhandlung mangels Sitzplätzen in einem Nebensaal über eine Leinwand verfolgen.
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Von ihrem älteren Sohn David begleitet, betritt Gisèle Pelicot den Hauptsaal. Ganz in Beige gekleidet, neuerdings ohne Sonnenbrille, setzt sich die 72-jährige Rentnerin zur Linken des Gerichts, vor sich ihre beiden Anwälte, als wären sie ihre Leibgarde. Auf der rechtenSeite betritt ein großer weißhaariger Mann am Stock seinen Plexiglaskasten, flankiert von zwei bewaffneten Polizisten. Dominique Pelicot, (71), der Strippenzieher und Beteiligte von nahezu hundert Vergewaltigungen an seiner Frau, ist geständig: „Ich bin ein Vergewaltiger“, hatte er zu Prozessbeginn versichert, als würde er seinen Beruf angeben.
Vergewaltigt von 83 Männern: Opfer ist an jedem Prozesstag dabei
Medien nennen ihn „Doktor Jekyll und Mister Hide“: 50 Jahre lang hatte Pelicot tagsüber seine Familie umsorgt, nachts suchte der einstige Elektriker im Internet Männer, die sich an seiner betäubten Frau vergehen wollten. Noch unfassbarer: 83 Männer machten ab 2011 bei den Taten mit, bis Pelicot 2020 aufflog. Ein aufmerksamer Wächter erwischte den Rentner in einem Einkaufszentrum in Carpentras, als er Frauen unter die Röcke filmte. Die Polizei untersuchte seinen Computer – und stieß auf hunderte von Fotos und Videos eines abscheulichen Verbrechens, das vielleicht nie bekannt geworden wäre. Denn das Opfer, seine Ehefrau, wusste von nichts.
Vor Gericht kommen immer mehr Details ans Licht. Knapp einmal pro Monat schüttete ihr Mann die zehnfache Schlafmitteldosis in ihr Abendessen, um sie zu betäuben. Nach den entsetzlichen Taten säuberte er seine Frau von Spermaspuren. Gisèle Pelicot klagte immer wieder über Unterleibsschmerzen, aber die Gynäkologen fanden nichts. Sie litt zudem unter Gedächtnislücken, dachte an Alzheimer. In Wahrheit war sie von ihrem Mann systematisch bewusstlos gemacht worden. Zahllose Männer haben sie in dem Zustand missbraucht. „Ohne ihr Wissen“, wie Pélicot auf der Website schrieb, über die er Männer für die Vergewaltigungen suchte.
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Jetzt sitzen sich Gisèle und Dominique in einer Entfernung von fünfzehn Metern gegenüber, Auge in Auge. Was denken sie wohl, wenn sich ihr Blick kreuzt, hier im Gerichtssaal, nach fünfzig Jahren Ehe, gefolgt von totalem Verrat, intimster Gewalt? Auf den Bänken zwischen dem heute geschiedenen Ehepaar sitzen die anderen Angeklagten. Von ihnen konnten bis jetzt 50 Männer identifiziert werden. Einige sind in Beugehaft und warten in einem Glaskäfig auf ihre Vernehmung; die leichteren Fälle füllen die Sitzbänke.
Hauptangeklagter versprach Männern Dreier mit seiner Ehefrau
Andy R., ein 37-jähriger Gelegenheitsarbeiter, wird als Erster vernommen. Klein, mit Bart, schwarz gekleidet, eine schwere Goldkette um den Hals, erzählt er stockend, er habe den Neujahrsabend 2018 allein verbracht, viel getrunken und gesnifft. Auf der heute verbotenen Swinger-Webseite „Coco.fr“ habe ihn ein Unbekannter gefragt, ob er einen Dreier mit seiner Frau wolle.
Was er dann erzählt, ist kaum auszuhalten. Eine Stunde später sei er Andy R. bei Dominique Pelicot im Provence-Dorf Mazan gewesen. Habe sich in der Küche entkleidet sich auf Wunsch des Hausherrn seine Hände an einem Ofen gewärmt. Dann habe er das Schlafzimmer betreten und sich zu einer Frau gelegt, die halbnackt auf dem Bett gelegen habe, das Gesicht zur Wand. Sie habe sich nicht bewegt. Er habe versucht, sie zu streicheln, dann in sie einzudringen, aber ohne Erfolg, so Andy R.
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Bei all seinen Bemühungen habe ihn Dominique gewarnt: „Pass auf, du wirst sie noch aufwecken!“ „Das wäre mir nur recht gewesen“, sagt Andy R. Doch die Frau bewegte sich nicht. Pelicot habe ihn schließlich verärgert aufgefordert, aufzuhören und nach Hause zu gehen: „Sors“, habe er gesagt: „Raus!“
Mitangeklagter: „Bin mir wie ein Dieb vorgekommen“
Schweigen im Gerichtssaal, die Zeit steht kurz still. Gisèle Pelicot verfolgt die Szene wie immer konzentriert, mit hochgerecktem Kinn. Gerichtspräsident Roger Arata will es aber noch genauer wissen: „Ist es zu einer Penetration mit dem Penis oder einem Finger gekommen?“ Damit wäre der Tatbestand der Vergewaltigung erfüllt. Dominique Pelicot hatte alles gefilmt, doch die Sequenz ist unklar. Andy R. sagt mit brüchiger Stimme, er glaube nicht.
Arata will wissen, ob sich Andy R. nie gefragt habe, warum sich die Frau nicht bewege. Andy R. räuspert sich. Er habe zuerst geglaubt, ihre Unbeweglichkeit sei ein Spiel zwischen dem Ehepaar. „Haben Sie nie gedacht, dass Sie die Frau um ihre Einwilligung ersuchen müssten?“, unterbricht ihn der Richter. „Erst draußen, auf der Straße“, sagt Andy, fast heiser. „Dort bin ich mir plötzlich wie ein Dieb vorgekommen.“
Die Staatsanwältin erkundigt sich noch, warum Andy R. das „Spiel“ nicht früher abgebrochen habe. „Wegen Dominique Pelicot“, kommt die Antwort. „Er war imposant. Ich wagte nicht einmal Einspruch zu erheben, dass er alles filmte.“ Dominique Pelicot wirkt müde, gelangweilt.
Strippenzieher demonstrierte Vergewaltigungen an eigener Ehefrau
Ein zweiter Angeklagter wird aufgerufen, Hugues M., ein 39-jähriger Motorradfan. Er gibt zu, dass er auf sexuelle „Rollenspiele mit Domination und Verkleidung“ stehe. Aber als er auf Pelicots Einladung in sein Schlafzimmer getreten sei und auf dem Bett eine unbewegliche Frau vorgefunden habe, sei jeder sexuelle Reiz verschwunden. Dominique Pelicot habe darauf seine eigene Frau vergewaltigt, um dem Besucher vorzumachen, was zu tun sei. Er, Hugues, habe die halbnackte Frau zu streicheln versucht, aber sie habe nur geschnarcht. Da habe er seine Kleider gepackt und sei gegangen.
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Anders, der jüngste Angeklagte. Joan K. war bei der Tat 22 Jahre alt, von Beruf Soldat, er galt als depressiv. Jetzt sitzt er im Glaskäfig, ihm droht wie Pelicot das Höchststrafmaß für Vergewaltigung, 20 Jahre. Joan K. besuchte die Pelicot-Villa in Mazan nicht nur einmal im November 2019. Er kehrte im Januar 2020 auf Wunsch Pelicots zurück und verging sich ein zweites Mal an Gisèle Pelicot, bis zu seinem Orgasmus. Das zeigen mehrere, in ihrer Rohheit absolut abstoßende Videoausschnitte zweifelsfrei. Das Gericht hat seither beschlossen, diese Videos nicht mehr öffentlich vorzuführen.
Der Fall Joan K. interessiert die Staatsanwältin, weil er Einblick in die Tatmotive gibt. „Ich bestreite nicht, dass es mir Lust bereitet, mir mich mit einer schlafenden Frau vorzustellen“, sagte der junge Ex-Militär. Warum?, fragt die Anwältin nun. „Weil das wie eine Vergewaltigung ist.“
Frauen feiern Gisèle Pelicot für ihren Mut: „Beeindruckt mich ungemein“
Solche Aussagen stoßen außerhalb des Gerichtssaales auf ein breites Echo. Die französische Feministin Noémie Renard sagt, dem Pelicot-Fall unterliege eine generelle „Kultur der Vergewaltigung“, die zur „Banalität der Männlichkeit“ gehöre und auch „gewöhnliche Männer“ betreffe. Vor dem Gerichtsgebäude in Avignon sang ein Frauenkollektiv Mitte September: „Der Vergewaltiger bist du. Ihr seid die Gatten, die Väter, der Staat, die Gesellschaft.“
Gisèle Pelicots Tochter berichtete, die Anwälte der Angeklagten hätten Andeutungen gemacht, dass Frau Pelicot doch ihrem Mann mit der Zeit hätte auf die Schliche kommen müssen. Andere hätten behauptet, sie sei Alkoholikerin, Exhibitionistin, Nudistin. Darauf habe Gisèle Pelicot sich erstmals emotional gezeigt und wütend gefragt, ob man etwa sie für schuldig halte. „Sie fügte an, sie verstehe nun, warum sich so wenige Opfer von Vergewaltigungen trauten, Anzeige zu erstatten.“
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Eine Prozessbesucherin, die mit ihrer Tochter aus dem 30 Kilometer entfernten Carpentras für den Prozess nach Avignon gekommen ist, klatscht als Erste, als Gisèle Pelicot aus dem Gerichtssaal tritt. „Diese Frau beeindruckt mich ungemein.“