Berlin. Ihr Mann betäubte, vergewaltigte und bot sie zur Vergewaltigung an. Doch vor Gericht möchte sie ihren Peinigern eine Genugtuung nicht gönnen.

Endlich, sagten sich wohl die vielen Zuschauerinnen, die Gisèle Pelicot am Mittwoch mit Applaus vor Gericht empfingen. Seit Wochen hatte das Strafgericht der Provence-Stadt Avignon Angeklagte verhört – Handwerker, Angestellte, Arbeitslose, einen Fernfahrer, einen Journalisten, einen Soldaten. Einer nach dem anderen erzählte von dem Unfassbaren: wie der Handwerker Dominique Pelicot sie alle über eine Sexwebseite zu sich nach Hause eingeladen hatte, damit sie sich an seiner betäubten Frau vergehen konnten.

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Endlich ist nun an diesem Mittwochmorgen das Opfer selbst an der Reihe. Nach dem Verhör von 30 Angeklagten – 19 weitere stehen noch aus – hat Gerichtspräsident Roger Arata genug von den grausigen Details, von all den Ausflüchten. Er will Gisèle Pelicot anhören. Und die 72-jährige Frau, die bisher nur zu Verhandlungsbeginn kurz ausgesagt hatte, bleibt keine Antwort schuldig.

Gisèle Pelicot: Mit diesen Worten wendet sie sich an ihren Ex-Mann

Sie erzählt, wie sie 50 Jahre lang an der Seite eines „aufmerksamen, liebenden“ Mannes gelebt habe. „Wir teilten Freud und Leid, er half mir sogar bei den Arztuntersuchungen.“ Gisèle Pelicot hatte sich mehrmals untersuchen lassen, nachdem sie zwischen 2011 und 2020 über hundertmal mit Medikamenten betäubt und ohne ihr Wissen vergewaltigt worden war. „Ich verstehe noch immer nicht, wie du mich dermaßen verraten konntest, indem du Fremde in unser Schlafzimmer einludst“, schleudert sie ihrem Ex-Mann auf der anderen Seite des Gerichtssaales entgegen. „Du wusstest, dass ich eine Aversion gegen flotte Dreier habe. Das ist ein unermesslicher Verrat!“

In Frankreich ist Gisèle Pelicot für viele Frauen zum Vorbild geworden, weil sie sich traut, die Vergewaltigungen öffentlich zu machen.
In Frankreich ist Gisèle Pelicot für viele Frauen zum Vorbild geworden, weil sie sich traut, die Vergewaltigungen öffentlich zu machen. © AFP | GEOFFROY VAN DER HASSELT

Es ist das einzige Mal, dass die Französin ihren geschiedenen Ex-Mann duzt. Sonst spricht sie heute nur noch von „diesem Herrn“. Und sie erklärt ihre Verzweiflung: „Ich bin heute 72 Jahre alt und ich weiß nicht, wie ich mich wieder aufbauen soll. Und ob ich auch nur genug Zeit habe, um zu verstehen, was mir passiert ist, was ich erlitten habe“, sagt sie auf eine Frage des Gerichtspräsidenten Roger Arata. „Ich bin eine total zerstörte Frau.“

Aber Gisèle Pelicot verfällt nicht in den weinerlichen Ton, den ihr Ex-Mann vergangene Woche angeschlagen hatte, um zu erklären, er sei „verloren“, weil er die nächsten zwanzig Jahre zweifellos in einer Zelle verbringen werde. Seine Ex-Gattin verfolgt den Prozess seit Anfang September sehr aufmerksam und konzentriert; nur an Montagen ist sie abwesend, dann sucht sie eine Psychotherapeutin auf.

Pelicot macht anderen Betroffenen Mut: „Scham muss die Seite wechseln“

Hinter ihren beiden Anwälten sitzend, oft von ihren drei Kindern begleitet, ist sie bisher nur einmal aus der Haut gefahren, als ihr eine Gegenanwältin Exhibitionismus unterstellte. Das auch, weil Gisèle Pelicot für einen öffentlichen Prozess eintrat, bei dem auch die von ihrem Ex-Mann erstellten Videos der Vergewaltigungsorgien gezeigt werden. Das Schamgefühl müsse „die Seite wechseln“ und vom Opfer auf die Täter übergehen, hatte sie diese Entscheidung begründet.

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„Seit Beginn der Gerichtsverhandlung versucht man, mich als mitspielende Komplizin darzustellen“, ärgert sie sich nun. „Es heißt, ich habe nur so getan, als sei ich betäubt worden, oder ich sei Alkoholikerin. Das ist ungeheuer hart.“ Aber Gisèle Pelicot denkt, anders als ihr Mann, nicht nur an sich. Wenn sie sich vor Gericht äußere, dann nicht, um ihrer Wut und ihrem Hass auf ihre Peiniger Ausdruck zu verleihen, sondern damit „die Vergewaltigungskultur endet und sich die Gesellschaft ändert“. Sie möchte, dass andere Vergewaltigungsopfer sich sagten: „Wenn es die Frau Pelicot schafft, vor Gericht gegen ihren Vergewaltiger anzutreten, kann ich das auch schaffen.“

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Dann wendet sie sich an die vielen Frauen, die in den vergangenen Wochen als Zeuginnen aufgetreten sind, um ihre angeklagten Gatten, Brüder oder Väter zu verteidigen. „Ich kenne das, ich dachte auch, mein Mann sei über jeden Zweifel erhaben, er sei ein außergewöhnlicher Mensch. Aber die Vergewaltiger schlagen nicht nur nachts in der Tiefgarage zu“, sagt ihnen Gisèle Pelicot. „Meist handeln sie im Familien- oder Bekanntenkreis, und niemand würde sie verdächtigen.“

Ihre Aussagen wirken erschütternd offen. Sie sind vielleicht das beste Argument gegen die Unterstellungen und Andeutungen der Angeklagten. Letztere behaupten, sie hätten gedacht, Gisèle Pelicot habe das „Sexspiel zwischen Ehepartnern“ mitgemacht; sie habe nur so getan, als sei sie betäubt. Faule Ausreden, sagt Pelicot. Vom Gerichtspräsidenten gefragt, ob sie den Angeklagten etwas zu sagen habe, verneint sie. „Wenn sie heute im Zeugenstand ihre Tränen vergießen, weil ihnen erst gerade aufgeht, was sie angerichtet haben, dann lässt mich das völlig kalt.“