Berlin. Lindemann und Rammstein sind nach den Vorwürfen wieder auf Tour. Ein Experte analysiert, warum der Erfolg trotz Skandal weitergeht.

Nachdem das Ermittlungsverfahren gegen Rammsteins Frontsänger Till Lindemann wegen Sexualdelikten und der Abgabe von Betäubungsmitteln eingestellt wurde, füllt die Band weiter Stadien. Lindemann selbst hatte die Anschuldigungen ihm gegenüber bestritten. Medienwissenschaftler Christer Petersen ist Inhaber des Lehrstuhls für Angewandte Medienwissenschaften an der Brandenburgischen Technischen Universität und hat sich intensiv mit der Dynamik von Skandalen beschäftigt. Im Interview erklärt er, warum der öffentliche Aufschrei oft schnell verhallt.

Rammstein ist wieder auf Tour – mit Peniskanone und Hunderttausenden jubelnden Fans. Man könnte den Eindruck bekommen, dass es nie einen Skandal gegeben hätte.

Christer Petersen: Doch, den gab es. Ein moderner Skandal setzt sich letztendlich nur aus einigen wenigen Bestandteilen zusammen: Aus einem Skandalisierten, in den Fall Herr Lindemann, einem Skandalisierer, in einer modernen Mediengesellschaft immer auch die Massenmedien, die darüber berichten und den Skandal an das Publikum herantragen, und zuletzt etwas, worüber wir uns breit empören können, eine Normverletzung.

Medienwissenschaftler Christer Petersen hat ein Buch über die Skandalforschung veröffentlicht: „Kunst der Provokation“, erschienen beim „Springer VS“-Verlag.
Medienwissenschaftler Christer Petersen hat ein Buch über die Skandalforschung veröffentlicht: „Kunst der Provokation“, erschienen beim „Springer VS“-Verlag. © Prof. Dr. Christer Petersen

Egal, ob Luke Mockridge oder Fynn Kliemann – nach einiger Zeit wird immer weniger über einen Skandal gesprochen, Auftritte sind wieder ausverkauft. Nachhaltige Debatten in der breiten Gesellschaft gibt es dann kaum mehr. Folgen Skandale einem immer gleichen Muster?

Petersen: Ja, jeder Skandal flaut mit der breiten öffentlichen Empörung, die den Skandal ja erst zu einem solchen macht, ab. Die Frage ist jedoch, wie wirkt sich der Skandal einerseits auf die skandalisierte Normverletzung, anderseits auf die Skandalisierten aus. Sie erinnern sich sicher an den Fall Kachelmann. Dem Wetter- und Talkshowmoderator Jörg Kachelmann wurde vor etwa 15 Jahren von einer ehemaligen Geliebten vorgeworfen, dass er sie nicht nur neben seiner Ehe mit einer Reihe von anderen Geliebten betrogen hat, sondern auch vergewaltigt habe.

Im Gegensatz zum Fall Lindemann kam es zu einem Prozess und Kachelmann wurde freigesprochen und die Frau wurde später sogar zu Schadensersatz verurteilt. Dennoch erinnern wir uns heute, viele Jahre später, an Kachelmann als jemanden, der in einen Skandal verwickelt war, weil die Vorwürfe und der Prozess von einer Empörung begleitet wurde, von der sich Kachelmann nie wirklich erholen konnte – ganz anders als im Fall Lindemann.

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Rammstein und andere Skandale: „Wir legen unterschiedliche Maßstäbe an“

Haben Sie die Entwicklungen im Fall Lindemann vor diesem Hintergrund überrascht?

Petersen: Ja und nein. Ja, weil es bei beiden Fällen keine nachweislichen strafrechtlichen Vergehen gab. Wir als Öffentlichkeit urteilen und verurteilen also nur auf der Basis von moralischen Anschuldigungen. Und während der eine daran k.o. ging, perlt es an dem anderen scheinbar spurlos ab. Das ist überraschend – zugleich erstaunt mich das aber nicht wirklich.

Warum nicht?

Petersen: Weil wir offensichtlich völlig unterschiedliche moralische Maßstäbe anlegen. Jörg Kachelmann haben wir bereits seine Affären übelgenommen. Er galt davor als seriöser TV-Moderator, seine Promiskuität passte schlicht nicht ins Bild, die ihm vorgeworfene Rolle als Nötiger und Vergewaltiger schon gar nicht. Und auch der Freispruch vor Gericht konnte an Kachelmanns moralischen Verurteilung nicht mehr viel ändern. Lindemann hingegen, und nun sind wir endlich bei der Peniskanone, hat sich unter anderem mit sexuell Grenzwertigem erst seinen Namen gemacht.

Lindemann sitzt bei Rammsteins Auftritt im Mai 2024 in Dresden wieder auf seiner Peniskanone.
Lindemann sitzt bei Rammsteins Auftritt im Mai 2024 in Dresden wieder auf seiner Peniskanone. © BM | Marc R. Hofmann

Heißt das, dass die Vorwürfe für die meisten Fans und die Öffentlichkeit nicht sonderlich überraschend waren, weil sie irgendwie zu seiner Selbstdarstellung passten?

Petersen: Es hängt letztlich davon ab, ob Publikum und Öffentlichkeit zuvor zwischen Till Lindemann als Person und als Kunstfigur auf der Bühne, im Video und in seinen Texten unterschieden haben. Ich denke, das haben die meisten Fans nicht getan. Ich kenne aber auch ein paar Menschen, die sich den Spaß an Rammstein und Lindemann nicht verderben lassen wollten, indem sie einfach jede Entgleisung der Band als ironischen Kommentar gewertet haben. So konnte man Rammstein als Kunst und Lindemann als Künstler begreifen und musste sich weder mit deren Aussagen und Inszenierungen, noch mit den Personen hinter der Band moralisierend auseinandersetzen.

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Diese Bedeutung hatte Lindemanns Image im Skandal

Könnte man also sagen, dass Lindemanns Image als Provokateur und Rebell eine Art Schutzschild gegen solche Skandale bildet?

Petersen: Ja, ganz sicher gegenüber jenen, denen Rammstein nicht schon vor dem Skandal gegen den Strich gingen. Wer aber früher schon einmal kritisch drauf geschaut hat, dem wird aufgefallen sein: Vor dem Skandal um Lindemann war die Band immer wieder selbst das freiwillige Opfer einer internationalen medialen Öffentlichkeit, die sich lustvoll an ihr empörte und Rammsteins Popularität so steigerte und steigerte.

Mit ihrer kontroversen Symbolik und ihrer chauvinistischen und toxischen Männlichkeit in ihren Songtexten, Musikvideos und Bühneninszenierungen hat Rammstein immer wieder aufs Neue provoziert. Das führte zu Empörung bei einigen und Aufmerksamkeit bei vielen. So haben sie sich ein großes Bekanntheitskapital erarbeitet – einige würden so weit gehen und sagen: mit Kalkül erschwindelt. Ein Aufmerksamkeitskapital, das sich durchaus auch in Geld umwandeln ließ und am Ende des Tages auch Lindemann und Co. kostspielige Medienanwälte finanzierte.

Petersen über Skandale: „Dafür ist Rammstein das Paradebeispiel“

Und dieses Erfolgskonzept geht weiterhin auf?

Petersen: Ja, denn tatsächlich haben moderne Skandale ihre ganz besondere Ökonomie. Skandale können öffentlich Empörung hervorrufen, die entweder schnell verpufft oder länger anhält und so zur Veränderung von gesellschaftlichen Missständen führen kann. Politische Skandale wie Watergate oder die Parteispendenaffäre um Helmut Kohl haben das gezeigt. Doch in der Kultur- und Unterhaltungsindustrie funktioniert das anders. Hier besteht kaum die Gefahr, mit einem Skandal öffentlich Glaubwürdigkeit zu verlieren. Skandale werden hier immer wieder genutzt, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und so die eigene vermarktbare Bekanntheit immer weiter zu erhöhen. Dafür ist Rammstein das Paradebeispiel.       

Dann stellt sich ja schon die Frage: Hat das Image von Lindemann ihm nicht nur in gewisser Weise geholfen, den Skandal an sich vorbeiziehen zu lassen, sondern hat der Skandal selbst seinem Image noch einmal mehr genutzt?

Petersen: Das wird sich erst auf lange Sicht zeigen. Aber eher nicht, da zum einen das Aufmerksamkeitskapital von Rammstein in Deutschland, aber etwa auch für eine deutsche Band in den USA kaum mehr zu steigern war und ist. Zudem stehen Lindemann und seine Bandmitglieder nun ja als Personen auf dem Prüfstand. Mit neuen, nicht so leicht juristisch abzufangenden Vorwürfen könnte sich der Schaden für die Person Till Lindemann als so groß erweisen, dass dieser sich auf Lindemanns Entertainer-Persona und seine Band durchaus negativ und als Karriereknick auswirkt.