Kabul/Oberhausen. Humanitäre Hilfe – wie sich die Erschütterungen in der deutschen Krankenhauslandschaft bis nach Afghanistan auswirken.
An einem frühlingshaft warmen und sonnigen Novembertag landet ein Flugzeug auf dem Airport der afghanischen Hauptstadt Kabul. „Air Peace“ steht in großen Lettern auf dem Rumpf der Chartermaschine. Drei Busse fahren heran, aus ihnen steigen Dutzende Kinder. Viele humpeln, manche haben Gesichter, die aussehen, als seien sie geschmolzen. Etliche haben sich offensichtlich schon länger nicht mehr gewaschen, ihre Kleidung ist ärmlich, dreckig, kaputt. Masooda (11) trägt auf ihrem Arm die kleine Bibi (3) die steile Treppe hoch. Heute fliegen sie nach Deutschland, um dort behandelt zu werden. Es ist die 91. Mission des „Friedensdorf International“ und es ist eine, die so schwierig ist, wie kaum eine zuvor. Die Erschütterungen in der deutschen Krankenhauslandschaft wirken sich bis Afghanistan aus.
Einige Stunden zuvor auf dem Gelände des Afghanischen Roten Halbmonds im Nordwesten Kabuls: In einem großen Saal sitzen auf den zerschlissenen Stühlen viele Menschen, die Luft ist stickig. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. 89 Kinder werden heute ins ferne Deutschland reisen und ihre Eltern für Monate, vielleicht Jahre nicht mehr sehen. Tränen fließen. Es sind Tränen des Abschiedsschmerzes, aber auch der Erleichterung. „Wir haben schon so viel für unseren Jungen ausgegeben, wir haben kein Geld mehr und er konnte hier nicht geheilt werden“, sagt Muhibullah Jan, Vater von acht Kindern, Tagelöhner aus Parwan im Osten des Landes.
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Sein Sohn hat eine Osteomylitis am Bein. Bakterien fressen den Knochen auf. Unbehandelt kann eine Knochenentzündung schlimmstenfalls zum Tod führen. In Deutschland sehen Ärzte solche Erkrankungen sehr selten. In Afghanistan leiden viele Kinder darunter. Extreme Armut, eine katastrophale Gesundheitsversorgung, Mangelernährung und die schlimmen hygienischen Verhältnisse sind der Nährboden dafür. Im Juni waren die Helfer des Friedensdorfes in Kabul, um Kinder für den November-Flug auszusuchen. Manchmal lösten Eltern die dreckverschmierten Verbände ihrer Kleinen und es lagen bereits die Splitter toter Knochen darin.
Es ist aber nicht der Anblick solch schlimmer Wunden, nicht der Anblick der vom Kampf gegen die Infektion ausgezehrten Kinder, der die deutschen Helfer aus Oberhausen am meisten belastet. Es ist das Auswählen. Sie können nur eine bestimmte Anzahl von ihnen mitnehmen. Im Juni wurden ihnen etwa 1500 Kinder vorgestellt. Nur 89 können nach Deutschland. „Man fühlt sich macht- und hilflos, wenn die Listen geschlossen sind“, sagt Friedensdorf-Sprecherin Claudia Peppmüller. Manche Kinder müssen zum Sterben zurückgelassen werden.
Krankenhäuser können nicht mehr viele Freibetten anbieten
Die Listen sind Ausdruck des limitierenden Faktors der Hilfe: Wie viele Kinder in Deutschland behandelt werden können, hängt davon ab, wie viele Krankenhäuser Freibetten zur Verfügung stellen, sich also bereit erklären, Kinder kostenlos zu behandeln. Und die Betten werden immer knapper. Nicht nur für die kleinen Patienten mit Knochenentzündungen, auch für die, die nach Verbrennungen fürchterliche Narben haben oder die unter urologischen Problemen leiden.
Nach der Kindervorstellung im Juni sah es so aus, als müsse das Friedensdorf gegebene Zusagen widerrufen. Krankenhäuser, die zum Teil seit Jahrzehnten mit der Hilfsorganisation zusammengearbeitet hatten, teilten mit, sie könnten keine Freibetten mehr stellen. Es ist ein Ausdruck der tiefen Verunsicherung, die sich in der Krankenhauslandschaft breit gemacht hat.
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Allein die Kliniken in NRW stehen vor einem Schuldenberg von aktuell rund 2,8 Milliarden Euro, Tendenz: wachsend. „Das ist eine historische Defizitkrise“ klagt Hilmar Riemenschneider, Sprecher der nordrhein-westfälischen Krankenhausgesellschaft (KGNW). Die im Oktober vom Bundestag beschlossene Krankenhausreform könnte die Krise weiter vertiefen und zum Teil heftige Erlöseinbußen insbesondere für kleinere Häuser mit sich bringen, warnt der Verband.
Seit dem Beginn der Corona-Pandemie vor fast fünf Jahren sinkt die Zahl der kostenlosen Behandlungsplätze für das Friedensdorf kontinuierlich, jetzt ist sie eingebrochen. „Wir haben etwa ein Drittel weniger Freibetten als vor der Pandemie“, sagt Birgit Stifter, die Leiterin der Hilfsorganisation. Die Helfer versuchen den Rückgang zu kompensieren. Ärzte operieren mittlerweile weniger schwere Fälle ehrenamtlich in einem Eingriffsraum auf dem Gelände des Friedensdorfes. Die Organisation hat zudem Verträge mit Privatkrankenhäusern in Afghanistan geschlossen, um dort Operationen durchführen zu können, die sie finanziert.
Die Eltern der kranken afghanischen Kinder sind häufig bitterarm und verschulden sich bis an ihr Lebensende, um Therapien zahlen zu können. Gholam Rabanis Sohn Omar war im Friedensdorf. Der Junge ist eines der 45 Kinder, die im November nach erfolgreicher Behandlung zurück nach Afghanistan geflogen sind. Im Büro des Friedensdorfes in Kabul erzählt er, wie glücklich er sei, dass sein Sohn in Deutschland behandelt wurde. Bevor er auf das Friedensdorf aufmerksam wurde, hatte er bereits umgerechnet 6000 Euro für Therapien ausgegeben. Das ist das 60-fache des Monatslohns des Schuhmachers aus der Provinz Balch im Norden des Landes.
Gesundheitsminister Laumann (CDU) setzt sich ein
Bei der 91. Mission des Friedensdorfes ist noch einmal alles glimpflich ausgegangen. Kein Kind, dem im Juni zugesagt worden war, musste zurückgelassen werden. Zuvor hatte sich Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) ins Zeug gelegt und bei Krankenhäusern nach Freibetten gefragt. Für den Christdemokraten eine Ehrensache: Er unterstütze die Arbeit des Friedensdorfes „ausdrücklich, da mir die Versorgung von kranken und verletzten Kindern und Jugendlichen besonders am Herzen liegt. Gerade Kinder leiden am meisten unter Gewalt, Krieg und instabilen politischen Verhältnissen“.
Auch die kleine Bibi, die an diesem warmen Novembertag von Masooda die Treppe zu der „Air Peace“ hochgetragen wird, leidet unter einer Knochenentzündung am Bein. Die Dreijährige ist verängstigt, aber das große Mädchen kümmert sich rührend um sie. Dann beginnt die Reise in das ferne Land, das für ihre Eltern die letzte Hoffnung ist.