Oberhausen/Kabul. Das Mädchen ist dank des Friedensdorfes in Deutschland operiert worden. Jetzt kommt sie zurück nach Afghanistan

In dem großen Saal steht die Luft. Es ist stickig, warm, es riecht nach Schweiß, Stimmen tönen durcheinander. Sadra sitzt in einer der vordersten Stuhlreihen bei ihrem Cousin, er legt seine Hand behutsam auf ihren Kopf. Sie ist müde, die Augen fallen ihr immer wieder zu. Hinter dem kleinen Mädchen liegt eine lange Reise. Sadra war eineinhalb Jahre in Deutschland, weil sie sehr krank war. Jetzt ist sie zurückgekommen nach Afghanistan.

Kabul im August 2022. Erneut sind Helfer des Friedensdorf International in der afghanischen Hauptstadt. Es ist die 88. Afghanistan-Mission der Organisation, die kranke und verletzte Kinder aus Krisenländern zu Behandlung nach Deutschland bringt. Vor einem Jahr haben die Taliban wieder die Macht in dem Land am Hindukusch übernommen. Viele Hilfsorganisationen haben Afghanistan verlassen. Das Friedensdorf hat entschieden, weiterzumachen.

Eltern stellen ihre kranken und verletzten Kinder vor

Im Westen Kabuls liegt die Zentrale des Afghanischen Roten Halbmonds, der seit über drei Jahrzehnten die Partnerorganisation der Helfer aus Oberhausen ist. Diese Partnerschaft hat alle Wirren und Veränderungen im Land überstanden, den Bürgerkrieg in den 90er-Jahren, die erste Machtübernahme der Taliban, ihren Sturz, den überstürzten Rückzug der westlichen Besatzungstruppen nach 20 Jahren. Die erneute Machtübernahme.

In einem Gebäude am Rande des weitläufigen Areals ist das schlicht eingerichtete Büro des Friedensdorfes untergebracht. Hier stellen Eltern ihre kranken Kinder vor. Hier fällt die Entscheidung, ob ein Kind nach Deutschland kommen kann. Seit in Afghanistan nicht mehr gekämpft wird, finden Eltern mit ihren Kindern auch aus den entferntesten Provinzen ihren Weg hierhin.

Vater verdient umgerechnet 100 Euro im Monat

Sadra Nabi ist in diesem August 2022 mit ihrer Mutter aus Torkham an der pakistanischen Grenze gekommen, die Kleine ist zu diesem Zeitpunkt vier Jahre alt, ein schmales, bleiches Kind. Ein Jahr zuvor hatte Sadra bei einem Unfall einen offenen Schienbeinbruch erlitten. Die Knochen wuchsen nicht wieder richtig zusammen, in ihrer Not ließen die Eltern sie fünf Mal in Pakistan operieren und gaben dafür umgerechnet mehr als 1000 Euro aus.

Sadra mit ihrem Vater. 
Sadra mit ihrem Vater.  © HO | N.N.

Sadras Vater züchtet Blumen. Er verdient im Monat umgerechnet 100 Euro. In den sozialen Medien und im Fernsehen wird über das Friedensdorf berichtet. Die Eltern entscheiden, sie nach Kabul zu bringen. Auf dieser Mission werden den Helfern über 1500 Kinder vorgestellt. Nur 70 können nach Deutschland. Es gibt nicht mehr freie Behandlungskapazitäten.

Sadra kann nicht laufen, sie hat höllische Schmerzen. Als Birgit Hellmuth, die Einzelfallbeauftragte des Friedensdorfes, die Kleine sieht, entscheidet sie: Sadra kann nach Deutschland kommen. „Ohne Behandlung wird sie in Afghanistan nie wieder schmerzfrei sein oder am sozialen Leben teilhaben können.“

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Im November 2022 fliegt die Kleine in die Ferne. 7000 Kilometer entfernt von Afghanistan, von ihren Eltern und ihren fünf Geschwistern, gewöhnt sich Sadra schnell im Friedensdorf ein. Anfangs ist sie schüchtern, doch sie blüht rasch auf, lernt Deutsch, spielt mit den anderen Kindern, den Afghanen, Asiaten, Afrikanern. Zweimal wird sie in Deutschland operiert, ihr verletztes Bein muss verkürzt werden, aber die Wunden heilen. Eineinhalb Jahre nach ihrer Ankunft läuft Sadra mit 19 anderen kleinen Afghanen durch ein Spalier von Kindern und Friedensdorf-Mitarbeitern, einer ihrer Schuhe hat eine Erhöhung bekommen. „Nach Hause!“ rufen alle, diejenigen, die bleiben, klatschen. Es fließen Tränen.

Sadra hat in der Nacht nicht geschlafen, die Aufregung hat sie wachgehalten. Mit einem Airbus 380 geht es von Düsseldorf nach Dubai. Sadra stapft die steilen Stufen hoch in den Giganten. Sie wirkt ein wenig eingeschüchtert.

Kinder laufen durch die glitzernde Shoppingwelt des Flughafens Dubai

Die Kinder sind baff erstaunt über die Bildschirme an den Sitzen, darüber, dass ihnen das Essen an den Platz serviert wird. „Dieses Flugzeug ist wie Urlaub“, sagt einer der Jungs. In Dubai laufen die Kinder um 2 Uhr morgens mit großen Augen durch die glitzernde, luxuriöse Shoppingwelt des Flughafens, die Älteren halten die Jüngeren an den Händen. Im Friedensdorf haben sie gelernt, aufeinander aufzupassen. Sadra gähnt herzhaft. „Ich bin nicht müde“, sagt sie. Um 4 Uhr morgens hebt die Maschine der afghanischen Fluggesellschaft Kam Air ab nach Kabul.

Freuen sich auf ihre Verwandten und Freunde in Afghanistan: Sadra und die anderen Kinder aus dem Friedensdorf am Flughafen in Dubai.
Freuen sich auf ihre Verwandten und Freunde in Afghanistan: Sadra und die anderen Kinder aus dem Friedensdorf am Flughafen in Dubai. © HO | N.N.

Als unten die braunen Hügellandschaften und die gewaltigen Berge Afghanistans auftauchen, schläft Sadra. Bibi, ein anderes Mädchen, ist verwundert, als sie hört, dass es gleich noch durch eine Passkontrolle gehen wird. „Die wissen doch, wer wir sind. Wir sind doch aus Afghanistan.“ Um 6.20 Uhr setzt die Maschine in Kabul auf.

Sadras Vater hat Tränen in den Augen

Sadra wacht knatschig in der Heimat auf. Sie hätte gerne weitergeschlafen. Mit halb geschlossenen Augen geht sie durch die Passkontrolle. Eine Stunde später sitzt sie in dem großen Saal auf dem Gelände des Afghanischen Roten Halbmondes. Ihr Cousin sitzt bei ihr, streichelt sie. Kurze Zeit später kommt ihr Vater. Mohammad Helal ist glücklich. „Ich habe ein großes Gefühl der Freude in mir“, sagt der 36-Jährige. Er hat Tränen in den Augen.

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In den vergangenen Monaten hat er nur Bilder von Sadra gesehen. Die Kleine lächelt müde, als er sie in die Arme schließt. Ihre Mutter ist zu Hause in Torkham geblieben. In den vergangenen eineinhalb Jahren hat Sadra zwei neue Geschwister bekommen. Sie sind jetzt acht Kinder in der Familie. Die Mitarbeiter des Friedensdorfes suchen in diesen Tagen in Kabul auf ihrer 91. Mission neue Kinder für die Behandlung in Deutschland aus. Auch Sadra wird in einem halben Jahr wieder nach Oberhausen kommen. Noch ist ihre Behandlung nicht ganz abgeschlossen. Aber erstmal hat sie jetzt Zeit mit der Familie. „Wir wollten eine große Begrüßungsfeier veranstalten, aber leider ist mein Vater gestorben“, sagt Mohammad Helal. Eine kleine Feier wird es aber doch. Am Abend schickt die Familie ein Bild von Sadra. Sie trägt ein grünes Festgewand. Auf dem Foto lacht sie.