Baghlan. Afghanistan leidet unter den Folgen einer Flutkatastrophe. Die Klimakrise verschärft die Situation und treibt viele in Richtung Westen.
Mohammad Jomah Noori hievt sich auf seinen Krücken über die Trümmer des Hauses, in dem er mit seiner Familie vor der Katastrophe gelebt hat. Er zeigt auf die Baumwipfel, dorthin, wo das Wasser am 10. Mai stand. Drei, vielleicht dreieinhalb Meter hoch war die Flutwelle, die durch das Dorf rauschte und alles mitriss. „Gott sei Dank ist es am Tag geschehen, sonst wären alle Menschen, die du hier siehst, tot.“ In den 60 Jahren seines Lebens hat er so etwas noch nie erlebt, sagt Noori. Einen so heftigen Regen. Eine so zerstörerische Überschwemmung. Noori lebt in einem Land, das wie kaum ein anderes von den Folgen des Klimawandels getroffen wird.
Provinz Baghlan, Afghanistan. Von Kabul bis in die Stadt, die der Provinz ihren Namen gegeben hat, sind es nur etwa 260 Kilometer, die Reise dauert aber gute acht Stunden. Die Route über den Salang-Pass ist eine Buckelpiste voller grotesk überladener Lastwagen und überfüllter Reisebusse. Bei der Kleinstadt Baghlan hat der Kundus-Fluss die Natur satt grün gefärbt, hier bauen die Menschen Reis und Baumwolle an. In Laqe, einem Dorf, das im Osten mit der Stadt zusammenfließt, sind die ersten Spuren der Katastrophe zu sehen, die die Provinz vor zwei Monaten heimgesucht hat. Eine aufgerissene, trümmerübersäte Straße, zerstörte Lehmbauten, auf manchen der Grundstücke stehen staubbedeckte Zelte.
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Die Anwohner strömen zusammen, als sie die Fremden sehen, die gekommen sind. Frauen in blauen Burkas drängen sich an den Jeep, reden laut durcheinander. Abdul Malik steht mit seinen fünf Kindern in den Resten seines Hauses, nur noch die Mauern sind geblieben. Er erinnert sich voller Schrecken an den 10. Mai, als die Welle aus den fernen Bergen bis hierhin kam und mit ihr die Körper der Toten. „Wir haben viele Leichen gesehen. Meine Kinder haben die Leichen gesehen“, erzählt er. „Die Überschwemmungen haben unsere Zimmer zerstört, die Kanalisation, den Zugang zu sauberem Wasser. Alle Wände haben Risse. Es gibt nichts mehr, was unberührt ist.“ Mehr als 6000 Familien sollen alles verloren haben, fast 300 Tote wurden gezählt.
Folgen des Klimawandels treffen Afghanistan in diesem Jahr besonders heftig
In diesem Jahr treffen die Folgen des Klimawandels das Land am Hindukusch besonders heftig. Die Flutkatastrophe von Baghlan ist nur eine von vielen. Der Afghanische Rote Halbmond berichtet, es seien seit Jahresbeginn schon 32 der 34 Provinzen des Landes von Überschwemmungen nach Starkregenereignissen in Mitleidenschaft gezogen worden. Eine Viertelmillion Menschen sollen obdachlos, Hunderte, womöglich Tausende gestorben sein.
Es scheint manchmal, als sei Afghanistan verflucht. Immer wieder erschüttern verheerende Erdbeben das Land, Dürren vernichten fruchtbares Ackerland, Pakistan deportiert Hunderttausende Afghanen zurück in die Heimat – und nach der Machtübernahme der Taliban vor drei Jahren hat sich die westliche Welt von Afghanistan abgewandt. Nur noch wenige Hilfsorganisationen sind geblieben, um die Menschen zu unterstützen, die staatliche Entwicklungshilfe von Ländern wie Deutschland ist eingestellt worden.
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Mit der Verfestigung der wirtschaftlichen Not und der Zunahme der Naturkatastrophen nimmt der Fluchtdruck zu. Fast zehn Millionen Afghanen gelten als Flüchtlinge, ein Drittel von ihnen als Binnenvertriebene. In Deutschland beantragten im ersten Halbjahr 2024 etwa 20.000 Afghanen Asyl, nur aus Syrien kamen mehr Flüchtlinge.
Auf der Fahrt von Baghlan in Richtung Osten, dorthin, wo die Ausläufer des Hindukusch in die Ebene fließen, ändert sich das Landschaftsbild. Das Grün wird zu Braun und Grau. Drei Stunden dauert es bis Falool. Hier ist der Boden links und rechts des Weges ausdörrt, geröllübersät und von Rissen durchzogen. Das waren einmal Ackerflächen, die Lebensgrundlage der Menschen hier. Viele der ockerfarbenen Lehmhäuser sind nur noch Ruinen. Verstreut in den Resten des Dorfes stehen Zelte. Die Sonne brennt vom Himmel, es sind deutlich über 40 Grad.
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Arzt: „Menschen brauchen eine Unterkunft, Trinkwasser und medizinische Versorgung“
In Falool ist die Flutwelle am 10. Mai zuerst aus den Bergen angekommen. „Mein Bruder war in den Bergen, er hat mich angerufen und mir gesagt, ich solle sofort das Haus verlassen, weil die Flut kommt“, erinnert sich Mohammad Jomah Noori. Seine behinderte Tochter kann er nicht retten, er ist selbst gehandicapt, vor ein paar Jahren hat er bei einem Unfall ein Bein verloren. „Sie ging in der Flut verloren“, sagt Noori. Seit der Katastrophe lebt er mit seiner Familie wie die anderen Dorfbewohner in einem Zelt. Sie tragen die Kleidung, die sie vor zwei Monaten auf dem Leib hatten. Eine Sandale hat sich Noori von Nachbarn geliehen.
In einem größeren Zelt hat der Afghanische Rote Halbmond eine Gesundheitsstation eingerichtet. Mir Ahmad, ein junger, müde aussehender Arzt, versucht hier mit einem kleinen Team, so gut wie irgend möglich zu helfen. „Die Menschen brauchen dringend eine Unterkunft, Trinkwasser und medizinische Versorgung“, sagt er. 62 Menschen seien allein in Falool gestorben, etwa 1000 Familien hätten alles verloren, Häuser, Viehbestand, Besitz. „Unsere Kinder werden krank von der Sonne und der Hitze des Tages und von der Kälte in der Nacht. Unsere Frauen müssen ihre Notdurft im Freien verrichten“, klagt Mohammad Jomah Noori.
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In der provisorischen Gesundheitsstation drängen sich an diesem Tag Dutzende Frauen und Kinder. Es riecht nach Schweiß, Krankheit. Zwei Helferinnen verteilen Medikamente, die das Friedensdorf International nach Falool hat bringen lassen, eine deutsche Organisation, die seit 36 Jahren in Afghanistan arbeitet. „Ich habe noch nie so unterernährte Kinder gesehen oder so viele Mütter, die mit Behinderungen bei Geburten und Frühgeburten zu kämpfen hatten“, erzählt Hadisah Hakimi. Sie ist Ernährungsberaterin des Afghanischen Roten Halbmondes.
Sprecherin des Friedensdorfes: „Die Not hier ist überwältigend“
Mit Hakimi zusammen kümmert sich Zarghona um die Frauen und Kinder, sie ist Hebamme. Auch sie sagt: „So etwas habe ich noch nie erlebt.“ Viele Frauen litten unter psychischen Problemen, aber auch Beckenentzündungen und anderen gynäkologischen Krankheiten. „Unsere medizinischen Vorräte sind knapp“, warnt die Hebamme. In einem Nachbarzelt liegt eine Frau, andere fächeln ihr Luft zu. Kreislaufkollaps. Zarghona hat ihr eine Infusion gelegt. Viele der Kinder sind kahl rasiert, weil sie Läuse hatten, andere haben Krätze.
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Claudia Peppmüller, die Sprecherin des Friedensdorfes, wirkt angefasst. „Die Not hier ist überwältigend, und die Menschen sind überhaupt nicht auf den Winter vorbereitet. Manche der Frauen sind zu erschöpft, um ihre Kinder zu stillen“, sagt sie. Ihre Organisation will den Überlebenden der Katastrophe jetzt mit Medikamenten, Lebensmittelpaketen, Kleidung und Milchpulver helfen. Die FUNKE Mediengruppe unterstützt die Hilfsaktion mit 10.000 Euro. Mohammad Jomah Noori sagt, er sei dankbar, dass die deutschen Helfer es bis in sein Dorf geschafft hätten. „Es zeigt, dass sie mit uns mitfühlen.“
Wenige Tage nach dem Besuch in Falool sucht eine neue Katastrophe Afghanistan heim. In Nangarhar im Südosten des Landes sterben bei einem heftigen Sturm und starken Regenfällen mindestens 47 Menschen. Mindestens 400 Häuser werden zerstört.
Spendenhinweis
Das Friedensdorf International ruft zu weiteren Hilfen für Afghanistan auf. In Kooperation mit dem Afghanischen Roten Halbmond will die deutsche Organisation weitere Hilfsgüter für Flutopfer in die betroffenen Regionen bringen, darunter Medikamente, Decken, Kleidung und Lebensmittel.
Spendenkonto:
Stadtsparkasse Oberhausen
DE59 3655 0000 0000 1024 00
Stichwort: Flut Afghanistan