An Rhein und Ruhr. NRW-Beratungsstellen verzeichnen einen Anstieg an Schwangerschaftskonfliktberatungen – auch die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche steigt. Die Gründe.
Und plötzlich zeigt der Schwangerschaftstest zwei Striche an. Was für viele Menschen ein Grund zur Freude sein mag, kann bei anderen Betroffenen vor allem Unbehagen auslösen und das Leben komplett auf den Kopf stellen: „Wie soll ich das schaffen?“, „Kriege ich das hin?“, „Will ich das Kind überhaupt?“, mag sich dann die eine oder andere Schwangere fragen, wenn das Baby nicht geplant oder nicht gewollt war. Immer häufiger suchen Frauen deshalb die Schwangerschaftskonfliktberatung in NRW auf – ein Gespräch, das Voraussetzung für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch in Deutschland ist.
„Die Inanspruchnahme der Schwangerschaftskonfliktberatung war 2023 so hoch wie nie zuvor seit Beginn unserer Beratungstätigkeit im Jahr 2001“, erklärte beispielsweise Ulla Höhne, Vorsitzende des Vereins Donum Vitae in Mülheim und Oberhausen, bei der Vorstellung des Jahresberichts aus dem vergangenen Jahr. 237 Frauen ließen sich demnach 2023 in den ersten zwölf Wochen ihrer Schwangerschaft in den beiden Ruhrgebietsstädten beraten.
Pro Familia NRW: 15 Prozent mehr Schwangerschaftskonfliktberatungen als noch 2018
Ein Phänomen, das sich auch landesweit zeigt: Laut Pro Familia NRW verblieb der Bedarf an Beratung im Schwangerschaftskonflikt auch im vergangenen Jahr „auf hohem Niveau“ – im Vergleich zu 2018 sei die Zahl der Fälle um 15 Prozent gestiegen, heißt es im Jahresbericht für 2023. Etwa 26 Prozent aller Beratungen machten laut dem Bericht die Schwangerschaftskonflikt-Gespräche aus. Zählte der Landesverband im Jahr 2021 noch insgesamt 12.570 Fälle, waren es im Jahr 2023 13.303, teilt Eva Ehlers, Sprecherin von Pro Familia NRW, mit. Einen Anstieg in einer bestimmten Altersgruppe könne der Verband dabei nicht ausmachen, so Ehlers.
Ungewollt schwanger? Infos zur Konfliktberatung
Wer einen Schwangerschaftsabbruch in Betracht zieht, muss zuvor eine Schwangerschaftskonfliktberatung besuchen. Dort erhalten Frauen nach dem Gespräch eine sogenannte Beratungsbescheinigung, die Voraussetzung für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis ist.
Die Schwangerschaftskonfliktberatung darf jedoch nur durch staatlich anerkannte Beratungsstellen und Arztpraxen angeboten werden. Anlaufstellen in der Region sind unter anderem die Beratungsstellen des Vereins Donum Vitae oder von Pro Familia.
„Auf keinen Fall können wir sagen, dass es weniger Arbeit wird“, weiß auch Dr. Christine Gartmann. Seit 1988 arbeitet die Ärztin in der Pro Familia-Beratungsstelle in Oberhausen – und erlebt schon seit mehreren Jahren eine erhöhte Nachfrage. Im Jahr 2021 suchten noch 467 Frauen die Hilfe bei der Konfliktberatung, bis Ende 2023 stieg diese Zahl auf 556 Fälle. „Wie viele der Konfliktberatungen tatsächlich im Schwangerschaftsabbruch enden, wissen wir aber nicht“, so die Ärztin weiter. Auffällig sei jedoch, dass gleichzeitig auch die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in NRW steige.
Laut Statistischem Landesamt (IT.NRW) meldeten Arztpraxen und Krankenhäuser für das vergangene Jahr 23.246 Schwangerschaftsabbrüche von Frauen mit Wohnsitz in Nordrhein-Westfalen – die höchste Zahl seit 2008 (damals 24.120 Abbrüche). Im Vergleich zum Vorjahr waren das 688 Fälle beziehungsweise drei Prozent mehr (2022: 22.558 Fälle).
Mehr Abtreibungen in NRW: Vor allem Zukunftsängste seien der Grund
Für Ärztin Gabie Raven keine Überraschung. Seit 32 Jahren nimmt die Niederländerin Schwangerschaftsabbrüche vor und hat sich nach Praxen in Roermond und Rotterdam Ende 2022 auch mit einer Klinik in Dortmund auf die Abbrüche spezialisiert. Nicht nur im Nachbarland steige die Nachfrage nach einem Abbruch, auch in ihrer deutschen Zweigstelle sei im ersten Halbjahr dieses Jahres „so viel los gewesen, wie noch nie zuvor.“ Im vergangenen Jahr habe die Praxis in Dortmund 826 Abtreibungen durchgeführt, im ersten Halbjahr 2024 seien es bereits 500 gewesen. „Jetzt gerade ist es wieder ruhiger geworden, aber ich glaube, dass es nach der Ferienzeit wieder mehr werden“, vermutet Raven.
Warum sich schwangere Frauen für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, könne die Ärztin aufgrund einiger Gespräche nur vermuten. „Viele Frauen haben Zukunftsängste, da fehlt vielleicht das Geld und sie sind in Sorge wegen Kriegen und Klima“, erklärt die Niederländerin im Gespräch mit der NRZ. „Viele junge Menschen entscheiden sich aber auch für eine Abtreibung, weil sie erst mal Karriere machen wollen, da passt ein Kind nicht rein. Andere wollen nicht mehr hormonell verhüten und setzen deshalb auf verschiedene Handy-Apps oder andere Verhütungsmethoden, die aber nicht so sicher sind“, so Raven. Auch Corona habe laut der Ärztin bei jungen Menschen vor allem Unsicherheit ausgelöst.
Gründe für Abtreibungen in NRW: Allgemeine Bedrohungslage und mögliche Diskriminierung
Zukunftsängste spüren auch die Beratungsstellen von Pro Familia in NRW: „Wir beobachten in den letzten Jahren tatsächlich, dass Themen wie gesellschaftliche Krisen, Diskriminierung, Kriege und Klimawandel für junge Menschen zunehmend bedeutende Unsicherheitsfaktoren sind, die bei der Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft eine Rolle spielen können“, so Eva Ehlers von Pro Familia NRW.
Weitere Gründe seien laut Jahresbericht des Landesverbands das Gefühl der „allgemeinen Bedrohungslage“, das viele Menschen so sehr verunsichere, ob die „Vorstellung, ein (weiteres) Kind aufzuziehen, möglich erscheint“. Menschen, bei denen ein Partner sichtbaren Migrationshintergrund hat, formulierten zudem zunehmend die Sorge, ihr Kind möglicher Diskriminierung auszusetzen und gäben dies manchmal auch als Hauptgrund für die Entscheidung gegen die Schwangerschaft an.